Der Schock saß tief

So tief, dass wir erst einige Tage brauchten um zu realisieren, was da eigentlich gerade passierte. Die „Deutsche Interdisziplinäre Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin“ (Divi), ein Zusammenschluss aus sieben medizinischen Fachgesellschaften, gab einen Leitfaden (Version 2 – abgerufen am 08.12.2020) für die sogenannte Triage heraus.

Für Menschen mit Behinderung – wie uns – sind die nun vorgestellten Triage-Empfehlungen im Rahmen der Corona-Pandemie aber nicht hinnehmbar. Denn Menschen mit Behinderung werden darin strukturell und grundsätzlich benachteiligt.

Gebrechlichkeitsskala

In diesen Triage-Empfehlungen wird u.a. die “Clinical Frailty Scale” (CFS), zu deutsch “Gebrechlichkeitsskala”, herangezogen. Diese ist eine umstrittene Methodik, um die Gebrechlichkeit und damit Anfälligkeit von Menschen ab 65 Jahren vom äußerlichen Erscheinungsbild abzuleiten. In dieser werden Patient*innen (ihrem äußerlichen Erscheinungsbild nach) in verschiedene Kategorien sortiert. Diese Kategorien sind dann Kriterien zur Priorisierung von Patient*innen. Insgesamt soll durch verschiedene Kriterien eine angenommene “klinische Erfolgsaussicht” für den einzelnen Patient*in vorhergesagt werden. Der daraus resultierende Wert entscheidet darüber, wer lebensrettende Behandlungen erhält und wer nicht. Es geht also nicht um eine „best choice“-Entscheidung, sondern vielmehr um den Verzicht auf Behandlung derer, bei denen nur eine geringere Erfolgsaussicht durch einen völlig unzulänglichen und diskriminierenden Katalog angenommen wird. Behinderte Menschen gelten in der Skala allein durch “Abhängigkeit” von anderen, Unterstützungsbedarf, Nutzung von Gehhilfen, Rollstühlen etc als “gebrechlich”.

CSHA Klinische Frailty-Skala: 7 Kategorien von sehr fit bis sehr gebrechlich. Das Piktogramm für die 7. Kategorie ist ein Rollstuhl der geschoben wird. Beschreibung: komplett abhängig von anderen Menschen in den Aktivitäten des täglichen Lebens oder im Endstadium krank

 CFS Kategorien (Quelle: Klaus Hager, Olaf Krause)

Dabei sagt die Skala nichts darüber aus, ob die Behandlung tatsächlich erfolgreich sein wird oder nicht. In Großbritannien führte der Einsatz dieser Methodik anfangs zu einer grundsätzlichen Nichtbehandlung behinderter Menschen und wurde erst durch massiven Protest von Menschen mit Behinderung relativiert.

Doch damit nicht genug.

Der Leitfaden der Divi führt Kriterien von „Komorbiditäten“ mit Beeinträchtigung des „Langzeitüberlebens“ auf, darunter auch: „Weit fortgeschrittene generalisierte neurologische oder neuromuskuläre Erkrankungen.“

Das ist diskriminierend, da das Vorhandensein einer Vorerkrankung in dieser generellen Aussage nichts über die Erfolgsaussichten der Behandlung aussagt. Aber selbst wenn es das täte, schließt das Grundgesetz die Abwägung Leben gegen Leben aus. Auch ein Mensch mit Behinderung, mit Vorerkrankungen oder ältere Menschen müssen darauf vertrauen dürfen, dass sie die gleiche Chance auf Lebensrettung haben wie jeder andere Mensch auch.

Denn jeder Mensch ist Mensch!

Doch im Ernstfall werden Entscheidungen getroffen, die auf einer vermeintlichen „Lebenswert“ – „Nicht Lebenswert“-Alternative beruhen oder auf einer Entscheidung, wieviel Lebenszeit mutmaßlich nach erfolgreicher Behandlung verbleibt. Dabei werden behinderte Menschen massiv benachteiligt. Auch wenn die Divi ein „Mehraugenprinzip“ fordert, wird dabei nur die Auffassung von Mediziner*innen bedacht. Diese sind aber geprägt vom medizinischen Modell von Behinderung, welches spätestens seit der UN-Behindertenrechtskonvention durch das soziale Modell von Behinderung abgelöst wurde. Dass grundsätzlich Divi auf die Expertise anderer Kreise verzichtet, zeigt sich auch daran, dass bei dieser wichtigen und schwierigen Empfehlung kein Verband oder keine Institution von Menschen mit Behinderungen oder anderer Minderheiten beteiligt wurde, die auf diese Umstände hätte hinweisen können.

Die Entscheidung bei Ressourcenknappheit ist schwierig. Keiner möchte in der Haut der Ärzt*innen stecken. Dennoch kann die Gewissensentscheidung nicht durch Abhaken diskriminierender Prüfungskriterien abgenommen werden. Es geht nicht darum, dass in einem Fall von Ressourcenknappheit eine Entscheidung für oder gegen einen Patient*innen getroffen werden muss. Aber es geht darum, dass keine willkürlichen und strukturell diskriminierenden Entscheidungen getroffen werden. Die Triage nach Erfolgsaussichten durchzuführen ist dabei nur eine von mehreren möglichen Handlungsmaximen (weitere sind Dringlichkeits-, Zufalls- oder Prioritätsprinzip). Hier sollte der Gesetzgeber Prinzipien für die Wahl der Entscheidungsmaxime aufstellen. Art. 1 des Grundgesetzes schützt uneingeschränkt die Menschenwürde. Demnach folgt nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts auch der Grundsatz, dass Leben nicht gegen Leben abgewogen werden darf. Es ist demnach die Pflicht des Gesetzgebers, Menschen mit Behinderung davor zu schützen, dass andere willkürlich eine solche Abwägung vornehmen!

Mal wieder wurde zur Erstellung dieser Triage-Empfehlungen nicht mit Betroffenen gesprochen. Mal wieder wurden der Deutsche Behindertenrat oder andere Organisationen nicht angehört.
Dabei geht es sprichwörtlich um die Entscheidung über Leben oder Tod. Die Triage-Empfehlung legt diskriminierende und sachlich nicht belegbare Kriterien für diese Entscheidung zugrunde. Die vorgelegten Kriterien könnten damit zum Todesurteil einer großen Zahl von Menschen mit Behinderung werden. Dass der Präsident der Divi öffentlich die Frage aufwirft, ‘ob es wirklich Sinn ergebe, “Menschen in sehr hohem Alter, die aus eigener Kraft schon lange kaum mehr leben können und schwere chronische Begleiterkrankungen haben, noch zu intubieren und auf einer Intensivstation zu beatmen’ weckt schlimmste Erinnerungen an Begründungsmuster aus längst überwunden geglaubten Zeiten.

Wir fordern

Falls es trotz aller zu unternehmenden Bemühungen nicht gelingt alle Patient*innen mit entsprechendem Bedarf und medizinischer Indikation mit lebensrettenden und lebenserhaltenden Behandlungen zu versorgen, muss der Gesetzgeber ein Parlamentsgesetz verabschieden, dass für Patienten und Behandlungsteams eine rechtssichere Entscheidungs- und Behandlungssituation herstellt.
Dieses Parlamentsgesetz muss sicherstellen, dass die Entscheidungskriterien keinen unmittelbar oder mittelbar diskriminierenden Charakter haben und dass für Patient*innen Rechtsschutzmöglichkeiten bestehen.

Triage

Triage, das soviel wie ‚sortieren‘, ‚aussuchen‘, ‚auslesen‘ bedeutet, bezeichnet ein Verfahren zur Entscheidung, wer medizinische Hilfeleistungen bekommt. Während normaler Zeiten dient es der schnellen Zuordnung von Patient*innen zu den richtigen medizinischen Ressourcen. Bei unerwartet hohem Aufkommen an Patient*innen z.B. in Folge von Naturkatastrophen oder Unfällen wird die Triage angewendet um schnellstmöglich festzustellen welche*r Patient*in am nötigsten medizinische Hilfe benötigt und in welcher Reihenfolge die Ressourcen verteilt werden.

Stellungnahme zu den Empfehlungen der
Fachverbände für den Fall einer Triage

Die vorgeschlagene Triage lässt eine individuelle Entscheidung im Einzelfall nicht zu und verhindert so bereits auf der ersten Prüfungsstufe die Möglichkeit, den betroffenen Menschen als Individuum mit eigener Würde zu behandeln. Dieser utilitaristische Ansatz widerspricht dem Fundament unseres Grundgesetzes, nach dem nicht die größtmöglich summierte Würde geschützt ist, sondern die Würde jedes Einzelnen. Letztere würde jedem genommen werden, der bereits durch Vorauswahl aus der Rettung ausscheidet.

Forum der behinderten Juristinnen und Juristen (FbJJ)

Spende für die Verfassungsbeschwerde!

Via GoFundMe und Überweisung

Verfassungsbeschwerde

Text: Verfassungsbeschwerde Triage

Mehrere Betroffene haben – mit Unterstützung von AbilityWatch e.V. im Juli 2020 Beschwerde vor dem Bundesverfassungsgericht eingelegt.
Die Pressemitteilung dazu finden Sie hier.

Selektionsgesetz für Deutschland

Nachdem das Bundesverfassungsgericht am 16. Dezember 2021 aufgrund unserer Verfassungsbeschwerde aus dem Jahr 2020 geurteilt hatte, dass der Gesetzgeber unverzüglich geeignete Vorkehrungen treffen müsse, um Menschen mit Behinderungen auch in Triage-Situationen vor Diskriminierung zu schützen, stimmt nun der Bundestag am 10. November über einen entsprechenden Gesetzesentwurf ab.

Bundesverfassungsgericht beschließt über Triage-Verfassungsbeschwerde: Menschen mit Behinderungen dürfen bei einer Triage nicht benachteiligt werden

Heute beschloss das Bundesverfassungsgericht, dass Menschen mit Behinderungen bei einer Triage nicht benachteiligt werden dürfen. Das Bundesverfassungsgericht sagt in seiner Erklärung deutlich, dass der Gesetzgeber Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG verstoßen hat, weil er bislang keine Vorkehrungen getroffen hat, dass Menschen mit Behinderungen bei der Zuteilung überlebenswichtige Ressourcen nicht benachteiligt werden. Er muss deshalb unverzüglich geeignete Vorkehrungen treffen....

Tuttlingen will Alte und Behinderte nach Lebenswert triagieren

Mit blankem Entsetzen haben wir das Schreiben des Tuttlinger Kreis-Klinikums und des Landratsamts in Tuttlingen an Einrichtungen der Alten- und Behindertenhilfe zur Kenntnis genommen. In diesem werden die Betreiber unverblümt dazu aufgefordert dafür zu sorgen, dass alte, behinderte oder erkrankte Personen im Falle einer Corona-Infektion nicht mehr behandelt werden. Wie befürchtet wird nun die Triage in den nicht-klinischen Bereich verlagert und bestimmte Personengruppen zum...

Corona-Status 2021 – Wie die Regierung hoch vulnerable Gruppen opfert

Update 11.01.2021: Die Ständige Impfkommission (STIKO) hat ihre Empfehlungen zur Covid-19-Impfung aktualisiert - s. unten. Die Belegung von Intensivbetten befindet sich auf einem HochpunktDIVI Intensivregister (Stand 02.01.2021), in einigen Regionen konnten Covid19-Patienten zwischenzeitlich nicht mehr mit allen nötigen Ressourcen versorgt werdenTagesschau „Triage-Aussage sorgt für Aufsehen“ (abgerufen 02.01.2021) und die Impfungen laufen nur schleppend an - gerade für...

Bundesverfassungsgericht stellt kritische Fragen zur Triage

Bundesverfassungsgericht sendet Fragen an Regierung und Sachverständige  Wie mehrere Medien¹ berichten, hat das Bundesverfassungsgericht infolge der von AbilityWatch e.V. unterstützen Verfassungsbeschwerde Fragen zur Triage und den damit verbundenen Abwägungsentscheidungen an unterschiedliche Institutionen versandt. Im Juli hatten neun Personen der sogenannten Corona-Risikogruppe die Beschwerde² beim Bundesverfassungsgericht eingelegt. Sie zielt darauf, dass der Gesetzgeber...

Bundesverfassungsgericht nimmt sich der „schwierigen Frage” der Triage-Thematik an

Antrag auf einstweilige Anordnung abgewiesen - Verfassungsbeschwerde in der Hauptsache „nicht unzulässig oder offensichtlich unbegründet"Das Bundesverfassungsgericht nimmt sich der von AbilityWatch e.V. unterstützten Verfassungsbeschwerde zur Triage-Problematik während der Corona-Pandemie an. Bevor es zum Hauptsacheverfahren kommt, hatten die Richterinnen und Richter in Karslruhe allerdings über einen Eilantrag auf einstweilige Anordnung zu entscheiden. Diesen hatten die...

Verfassungsbeschwerde gegen Triage-Verfahren

Update 14.08.2020: Mittlerweile hat das Bundesverfassungsgericht über den Eilantrag auf einstweilige Anordnung entschieden. Die Verfassungsbeschwerde selbst ist weiter anhängig. - PressemitteilungShutdown und Triage Erinnert ihr euch noch, als sich im März und April die Krankenhäuser und Intensivstationen in Deutschland aufgrund der Corona-Situation langsam füllten? Dank des rechtzeitigen Shutdowns blieben uns Zustände wie in Italien, Spanien oder Großbritannien bisher...

Fachgesellschaften veröffentlichen ethisch und verfassungsrechtlich fragwürdige COVID19-Empfehlungen

Am Mittwoch verabschiedeten sieben verschiedene Fachgesellschaften gemeinsam Handlungsempfehlungen bezüglich der Zuteilung von Ressourcen in der Bekämpfung der COVID-19-Pandemie. Sie soll Ärzten und Medizinern Orientierung bei der Frage geben, welche Patienten lebensrettende Behandlungen erhalten sollen und welche nicht, falls die Kapazitäten nicht für alle Patienten ausreichen. AbilityWatch kritisiert die Verbände scharf und zeigt sich empört über das Verhalten der...

Stellungnahmen der sachkundigen Dritten

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In der Stellungnahme von April 2020 haben wir die Triage-Richtlinien der Deutschen Interdisziplinären Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (DIVI-Richtlinien) als Diskriminierung gegen alte und behinderte Personen, die intensivmedizinischer Behandlung bedürfen, eingestuft. Außerdem hat sich BODYS für eine gesetzliche Grundlage für mögliche zukünftige Priorisierungsentscheidungen in der intensivmedizinischen Versorgung ausgesprochen.
(1. Vorbemerkung – Seite 1)

Bereits aus den o.g. Vorschriften des einfachen Rechts in den Sachgebieten des Straf-, Sozialund Zivilrechts ergibt sich, dass die Triage-Richtlinien der DIVI gegen geltendes Recht verstoßen. […] Auch mit den sozialrechtlichen Vorgaben sind die Triage-Richtlinien der DIVI nicht zu vereinbaren.
(2. Zu den Einzelfragen – Seite 6)

Die Triage-Richtlinien der DIVI dienen nicht der Sicherstellung, sondern der Priorisierung intensivmedizinischer Leistungen, sie sind keine gesetzliche Vorschrift, die dem § 31 SGB I genügt, und sie verstoßen gegen das Benachteiligungsverbot des § 33 c SGB I, indem sie gegen behinderte und alte Behandlungsbedürftige diskriminieren.
(2. Zu den Einzelfragen – Seite 7)

Aus den Grund- und Menschenrechten lässt sich im Hinblick auf Triage-Situationen eine Schutzund Gewährleistungspflicht des Staates gerade für behinderte Menschen ableiten. […] Das Lebensrecht und das Recht auf Gesundheit behinderter Menschen wären verletzt, denn die Vorenthaltung bzw. der Entzug intensivmedizininischer Versorgung würde die Gesundheit und das Leben der Betroffenen gefährden.
(2. Zu den Einzelfragen – Seite 8)

Von der mittelbaren Diskriminierung werden scheinbar neutrale Maßnahmen erfasst, die sich mehrheitlich oder typischerweise negativ auf behinderte (oder ältere) Menschen auswirken. Das ist bei der Anwendung der DIVI-Richtlinien eindeutig der Fall, wie sich aus den Kriterien ergibt, die in den DIVI-Richtlinien „Indikatoren für eine schlechte Erfolgsaussicht intensivmedizinischer Maßnahmen“ genannt werden. Patient*innen, die regelmäßig beatmet werden und als gebrechlich iSd CFS gelten, gehören dazu. […] Damit müssen die DIVI-Richtlinien als mittelbar diskriminierend in Bezug auf behinderte (und ältere) Menschen eingestuft werden.
(2. Zu den Einzelfragen – Seite 10-11)

Behinderung und chronische Vorerkrankung können bei der Anwendung des Kriteriums der klinischen Erfolgsaussicht eine benachteiligende Rolle spielen, wie am Beispiel der DIVI Richtlinien und deren Zugrundelegung der CFS sowie des Komorbiditätskriteriums bereits dargelegt wurde. Andere mittelbar diskriminierenden Faktoren zur Bestimmung der Erfolgsaussichten wären die zu erwartenden Lebensjahre, da chronische Erkrankungen oder Behinderungen mit einer Lebensverkürzung verbunden sein können. Auch die Anwendung der insbesondere in der US-amerikanischen Medizin entwickelten QUALYS (quality adjusted life years scale) ist tendenziell behindertendiskriminierend. Danach werden die Überlebensjahre mit dem Faktor der Lebensqualität multipliziert, wobei Behinderungen und chronische Erkrankungen regelmäßig als Minderung der Lebensqualität eingestuft werden. Die Anwendung dieser und vergleichbarer Faktoren und Kriterien bei der Entscheidung über (intensiv-)medizinische Behandlungen in der COVID-19-Pandemie wurden deshalb aktuell durch europäische, US-amerikanische und internationale Behindertenorganisationen als diskriminierend verurteilt. Allerdings wird für die Triage-Situation auch von Kritiker*innen des utilitaristischen Ansatzes der Maximierung der Überlebendenzahl anerkannt, dass das Dringlichkeitsprinzip allein nicht ausreicht, um die schwierige Frage zu beantworten, wie limitierte medizinische Ressourcen für eine zu große Anzahl von Behandlungsbedürftigen gerecht verteilt werden sollen
(2. Zu den Einzelfragen – Seite 12-13)

Trotz dieser Bedenken ist das Randomisierungskriterium als zulässiges, menschenrechtsbasiertes Triage-Kriterium einzustufen, da es prinzipiell anti-utilitaristisch und lebenswertindifferent ist. Im Hinblick auf die Berücksichtigung struktureller Benachteiligungen kann in diesem Zusammenhang auch eine Quotenregelung angedacht werden, nach der eine bestimmte Anzahl von Intensivbetten für behinderte Personen (und andere zu berücksichtigende Gruppen) reserviert würden, die dann nach dem Zufallsprinzip verteilt würden.
(2. Zu den Einzelfragen – Seite 15)

Ein Nachteil könnte in einem möglichen Dammbruch-Effekt liegen, den eine gesetzliche Akzeptanz von Priorisierungsmaßnahmen in der Medizin haben könnte. Das gilt sowohl im Hinblick auf Rationierungsfragen in der Alltagsmedizin als auch im Hinblick auf zukünftige Katastrophenfälle. Angesichts der internationalen Vorgaben der UN Nachhaltigkeitsziele der Agenda 2030 sowie der Entwurfsarbeiten der Völkerrechtskommission an Schutzvorschriften für Menschen in Katastrophenfällen erscheint die Beschäftigung mit diesen Fragen jedoch ohnehin als Zukunftsaufgabe der Legislative. Der Vorteil einer gesetzlichen Regelung läge in der Möglichkeit, damit auch der historischen Verantwortung des deutschen Staates für den Menschenrechtsschutz für behinderte Menschen Ausdruck zu verleihen und den von der UN BRK geforderten Paradigmenwechsel vom medizinischen zum menschenrechtlichen Modell von Behinderung auch in der medizinischen Versorgung zu fördern. Eine gesetzliche Regelung, die unter Beachtung des effektiven Partizipationsgebotes aus Art. 4 Abs. 3 und Art. 33 Abs. 3 UN BRK zustande käme, würde zudem die Möglichkeit eröffnen, den Diskurs um Fragen der Triage demokratisch-inklusiv zu gestalten.
(3. Fazit – Seite 24)

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Die ISL unterstützt die Verfassungsbeschwerde AZ: 1 BvR 1541/20 in vollem Umfang. Nach dem Wesentlichkeitsgebot des Grundgesetzes ist es Auftrag des Gesetzgebers, Normen zu beschließen, die so wichtige Entscheidungen wie den Zugang zu medizinischer Versorgung regeln. Dieses folgt auch aus der Schutzpflicht des Grundgesetzes gegenüber einzelnen. […] Ein Verzicht auf einen gesetzlichen Rahmen ist eine Verletzung der Schutzpflicht, gegenüber alten und behinderten Menschen, die von einer angemessenen medizinischen Versorgung ausgeschlossen und dem Tod überantwortet werden. (Zusammenfassung der Antworten – Seite 2)
Bei den Auswahlkriterien ist insbesondere die Erfolgswahrscheinlichkeit der Behandlung das Einfallstor für eine diskriminierende Auswahl der zu behandelnden Patient*innen, da über das Alter, die Vorschädigung und die Bewertung der bereits vorhandenen gesundheitlichen Einschränkungen quasi eine Unterscheidung zwischen „lebenswertem“ und „lebensunwertem“ Leben getroffen wird. Eine solche Entscheidung darf nie wieder Gegenstand einer staatlichen Gesundheitspolitik werden und ist einem demokratischen Rechtsstaat unwürdig. (Zusammenfassung der Antworten – Seite 3)
Das Kriterium der klinischen Erfolgsaussicht ist weder grundgesetzkonform noch trägt es den der UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) abgeleiteten Menschenrechten Rechnung. Dieses Kriterium stützt sich auf das sog. Maximierungsprinzip, das darauf abzielt, dass eine Vielzahl von Menschen überlebt. […] Das Maximierungsprinzip folgt jedoch einem utilitaristischen Ansatz, der das kollektive Wohl, über das individuelle Wohl eines einzelnen Menschen stellt. Es trägt zu einer Objektivierung von Menschenleben bei und postuliert einen Vergleich zwischen Individuen, denen die Chance zuteilwird, anhand ihrer Erfolgsprognose gerettet zu werden – und denjenigen, die aufgrund mangelnder Erfolgsaussicht keine intensivmedizinische Behandlung erhalten. Es ist also in Konsequenz eine statistische Aufrechnung von Menschenleben gegen Menschenleben einhergehend mit einer zutiefst menschenrechtsverletzenden Bewertung menschlichen Lebens und der faktischen Untergrabung der Grundrechte jedes einzelnen Menschen. (Frage 7 – Seite 4)
Die angewandten Bewertungsinstrumente proklamieren jedoch, dass nur die „körperlich fitten“ Patient*innen eine so eindeutige Erfolgsaussicht haben, um in den Genuss lebenserhaltender intensivmedizinischer Maßnahmen zu kommen. Die körperliche Fitness, Robustheit und Widerstandskraft werden anhand von Messskalen evaluiert, die behinderten und alten Menschen automatisch eine negative klinische Erfolgsaussicht zuschreiben. Diese Bewertungsinstrumente diskriminieren die von ihr Betroffenen […] (Frage 7 – Seite 5)
Zur Ermittlung und Einschätzung des allgemeinen Gesundheitszustands empfiehlt die DIVI in ihrer Leitlinie zur Allokation von knappen intensivmedizinischen Ressourcen die CFS-Scale. […]: „Die Scala dient also dem Gegenteil dessen, wofür sie in den DIVI Empfehlungen herangezogen wird. Sie dient den Ärztinnen und Ärzten dafür, besondere Vorsichtsmaßnahmen bei Gebrechlichen zu treffen. Um mit ihr Entscheidungen über die Überlebenschancen einer schweren Erkrankung von Gebrechlichen zu treffen, ist die Scala weder gedacht noch geeignet.“ […] Aus dieser diskriminierenden Bewertung erschließt sich für die ISL nicht, wie auf den Allgemeinzustand abgestellt werden kann, wenn zur Ermittlung angebliche Fähigkeiten und Aktivitäten herangezogen werden, die die selbstbestimmte Teilhabe von behinderten Menschen ermöglichen, jedoch überhaupt keine Bewertung darüber zulassen, wie resilient ein/e an COVID-19 erkrankte/r Patient*in ist. (Frage 7 – Seite 6-7)
Beispiele wie dieses verdeutlichen, dass die Lebenserwartung eines Menschen anhand medizinischer Parameter und Messskalen nicht mit Gewissheit vorhergesagt werden kann. Wir vermuten, dass im Kontext der Prognose einer klinischen Erfolgsaussicht, eine Corona-Infektion durch intensivmedizinische Behandlung zu überleben, ebenfalls Fehleinschätzungen getroffen werden könnten. Das Konzept des Ableismus geht damit einher und spielt nach Ansicht der ISL bei der erarbeiteten Leitlinie der DIVI eine wichtige, nicht zu unterschätzende Rolle. (Frage 7 – Seite 8)
Ein anderes Kriterium gesetzgeberischen Handelns könnte die Aufstellung eines Katalogs von Kriterien sein, die bei einer Triage Entscheidung keine Rolle spielen dürfen. Hier könnten Kriterien wie z.B. Behinderung; Vorerkrankungen, die nicht nachweislich den Verlauf einer COVID-19-Infektion beeinflussen; Alter; prognostizierte Lebenserwartung und weitere aufgestellt werden15. Durch diese Verbote würde der Gesetzgeber sich nicht anmaßen, eigene positive Triage-Kriterien aufzustellen, sondern würde durch die Formulierung unzulässiger Kriterien, sog. Bewertungsverbote aufstellen. (Frage 7 – Seite 13)
Die ISL hält für dringend geboten, dass der Staat im Wege eines parlamentarischen Verfahrens und unter zwingender Beteiligung von Selbstvertretungsorganisationen behinderter Menschen und Menschenrechtsexpert*innen, gesetzliche Vorgaben erarbeitet, die den Grundrechten behinderter Menschen, auf einen diskriminierungsfreien und chancengleichen Zugang zu intensivmedizinischen Ressourcen Rechnung trägt. Gesetzliche Vorgaben bieten behinderten Menschen, ihren Angehörigen und Mediziner*innen eine gesetzlich normierte Orientierungshilfe und schaffen Rechtssicherheit für alle Betroffenen. (Frage 9 – Seite 16)
Die ISL teilt die Auffassung der Beschwerdeführer*innen zur Erarbeitung einer gesetzlichen Regelung. In die Erarbeitung sollten Expert*innen verschiedener Fachrichtungen miteinbezogen werden, um die gesamtgesellschaftliche Tragweite dieser Grundrechtseingriffe, im Wege einer gesellschaftlichen Partizipation, mitzugestalten. (Fazit – Seite 19)

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Auch vor diesem Hintergrund hat der Vorstand der Bundesärztekammer im Mai 2020 eine Orientierungshilfe beschlossen und damit aufgezeigt2, welche grundlegenden Prinzipien ärztlichen Handelns im Falle einer Situation knapper (intensiv-)medizinischer Ressourcen eine Orientierung bieten können, und festgestellt, dass auch in der Situation einer Pandemie die medizinische Indikation, der Patientenwille und die klinischen Erfolgsaussichten zentrale Kriterien für ärztliche Entscheidungen sind. […] Entscheidungen dürfen nicht schematisiert oder anhand von starren Algorithmen getroffen werden. Algorithmen oder Checklisten z. B. können grundlegende ethische oder medizinische Prinzipien verdeutlichen. Sie können aber die Entscheidung im jeweiligen Einzelfall nicht vorwegnehmen oder ersetzen.“
(1. Vorbemerkung – Seite 5)

Vor dem Hintergrund der SARS-CoV-2-Pandemie hat die Bundesärztekammer im Mai 2020 aufgezeigt, welche grundlegenden Prinzipien
ärztlichen Handelns im Falle einer Situation knapper (intensiv-)medizinischer Ressourcen eine Orientierung bieten können, und festgestellt, dass auch in der Situation einer Pandemie die medizinische Indikation, der Patientenwille und die klinischen Erfolgsaussichten zentrale Kriterien für ärztliche Entscheidungen sind.
(2.3 Wie wird bisher im klinischen Alltag mit Kapazitätsengpässen umgegangen – Seite 22-23)

Für den Fall nicht mehr bedarfsgerecht vorhandener Ressourcen ist es aus Sicht der Bundesärztekammer nicht zuletzt angesichts dieses ethischen Dilemmas Aufgabe der Politik, „Ärztinnen und Ärzten für diesen Fall Rückendeckung zu geben.“
(2.7 Welchen Stellenwert hat die klinische Erfolgsaussicht der Behandlung bei der Triage – Seite 45)

Eine hohe Verfügbarkeit von Ressourcen sowie keine oder wenige Risikofaktoren eines Patienten gelten als Prädiktoren für eine erfolgreiche Behandlung. Im Falle eines Kapazitätsmangels in einer Pandemie-Situation kommt den Patienteneigenschaften als Prädiktoren für eine erfolgreiche Behandlung ein besonderer Stellenwert zu.
(2.7 Welchen Stellenwert hat die klinische Erfolgsaussicht der Behandlung bei der Triage – Seite 45)

Im Falle notwendiger Priorisierungsentscheidungen bei nicht ausreichenden Ressourcen sollen diese so eingesetzt werden, dass die Erfolgsaussichten mit Blick auf das Überleben und die Gesamtprognose möglichst groß sind und die meisten Menschenleben gerettet werden können. […] Wesentlich ist, dass die Perspektive von Erfolgsaussichten zeitlich und inhaltlich nicht so weit über den unmittelbaren Behandlungskontext hinaus ausgeweitet wird, dass sich daraus ein pauschaler Ausschluss bestimmter Patientengruppen ergibt. Dieses Risiko wächst, wenn Wertungen zur mittel- und langfristigen Lebensqualität vorgenommen werden, es sei denn, eine erwartete Einschränkung der Lebensqualität entspricht nicht dem Patientenwillen. […]  Dementsprechend sind Ärztinnen und Ärzte nicht allein dem individuellen Patienten, sondern auch der Allgemeinheit verpflichtet, was ggf. zu einem Zielkonflikt bei Priorisierungsentscheidungen angesichts von Kapazitätsengpässen führen kann.
(2.7 Welchen Stellenwert hat die klinische Erfolgsaussicht der Behandlung bei der Triage – Seite 46)

Die Beurteilung der Erfolgsaussicht ergibt sich nicht aus dem Vorliegen einer bestimmten Erkrankung oder Behinderung, sondern aus dem Zusammenspiel verschiedener Faktoren (z. B. Schweregrad der akuten Erkrankung, Komorbiditäten, allgemeiner Gesundheitszustand/Gebrechlichkeit), die im Einzelfall jeweils integriert zu berücksichtigen sind. Hierfür bieten die jeweils aktuellen Stellungnahmen der medizinischwissenschaftlichen Fachgesellschaften eine wichtige Hilfe (z. B. die Empfehlungen mehrerer
Fachgesellschaften und Linkhinweise der DIVI-Empfehlungen, der DEGAM, der Deutschen Gesellschaft für Palliativmedizin und das Leitlinienregister auf der Homepage der AWMF, der Deutschen Gesellschaft für Geriatrie (DGG)).
(2.7 Welchen Stellenwert hat die klinische Erfolgsaussicht der Behandlung bei der Triage – Seite 46-47)

Die Teilfrage geht davon aus, dass das Kriterium der Erfolgsaussicht „ungerecht“ sei, so dass eine Alternative gesucht werden müsse. Als Alternativen wären grundsätzlich auch andere Kriterien bzw. Verfahren für die Allokation medizinischer Ressourcen denkbar, z. B. sogen. Zufallsverfahren wie Losverfahren oder „First-come-first-served“. […] Aus ärztlicher Sicht erscheinen solche Zufallsverfahren nicht zuletzt auch aus moralischen Gründen fragwürdig, da sie voraussichtlich zu mehr (vermeidbaren) Todesfällen in der Pandemie führen.
(2.7 Welchen Stellenwert hat die klinische Erfolgsaussicht der Behandlung bei der Triage – Seite 47)

Von wesentlicher Bedeutung ist, dass das Kriterium der Erfolgsaussicht – neben der medizinischen Indikation und dem Patientenwillen – für alle Patientinnen und Patienten gleichermaßen angewendet wird. […] Dabei ist ein interdisziplinärer, fachübergreifender Ansatz bei der Erarbeitung der Kriterien und Verfahren unter breiter Einbeziehung aller notwendigen fachlichen Expertisen wichtig, um Partikularinteressen zu neutralisieren. […] Um Sorgen und Befürchtungen vulnerabler Gruppen auf prozeduraler Ebene besser begegnen zu können, wird die Partizipation von Vertretern vulnerabler Gruppen bei der Erstellung und Implementierung von Kriterien und Verfahren diskutiert.
(2.7 Welchen Stellenwert hat die klinische Erfolgsaussicht der Behandlung bei der Triage – Seite 48)

Der Bundesgerichtshof hat in seiner Entscheidung vom 12.07.1967 festgestellt, dass der Beruf des Arztes, was keiner Ausführungen im Einzelnen bedürfe, in einem hervorragenden Maß ein Beruf sei, in dem die Gewissensentscheidung des einzelnen Berufsangehörigen im Zentrum der Arbeit stehe. Und weiter: „In den entscheidenden Augenblicken seiner Tätigkeit befindet sich der Arzt in einer unvertretbaren Einsamkeit, in der er – gestützt auf sein fachliches Können – allein auf sein Gewissen gestellt ist.“ Die Bundesärztekammer teilt diese Auffassung: Die Entscheidung bei knappen Ressourcen muss letztlich eine ärztliche bleiben und kann nicht juristisch gelöst werden.
(2.9 Sollte die Triage in Deutschland gesetzlich geregelt werden – Seite 57)

Es kann, aber auch muss darauf vertraut werden, dass der Arztberuf ein seiner Natur nach freier Beruf ist. […] Daher spricht sich die Bundesärztekammer gegen eine gesetzliche Regelung aus. Aufgrund der Pflichtkollision, in der sich die Ärztinnen und Ärzte befinden, handeln Ärztinnen und Ärzte nach Überzeugung der Bundesärztekammer rechtmäßig, wenn sie in einer Situation existentieller Knappheit einzelfallbezogene Entscheidungen über die Allokation (intensiv-) medizinischer Ressourcen treffen.
(2.9 Sollte die Triage in Deutschland gesetzlich geregelt werden – Seite 58)

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NW3 unterstützt die Verfassungsbeschwerde AZ: 1 BvR 1541/20 vollumfänglich. Es ist nach Ansicht von NW3 nicht zu verstehen, dass der Gesetzgeber in einer so wesentlichen Frage von Leben und Tod schweigt und grundlegende Empfehlungen privaten medizinischen Fachgesellschaften überlässt. Andere bedeutende Fragen zum Recht auf Leben (Schwangerschaftsabbruch, Sterbehilfe, Präimplantationsdiagnostik, etc.) wurden in der Vergangenheit ausdrücklich vom Parlament debattiert, oft unter dem Etikett „Sternstunde“ (Zusammenfassende Einschätzung – Seite 2)
Ferner ist das NW3 der Ansicht, dass eine Ex-post-Triage (ein Behandlungsabbruch zugunsten anderer Patient*innen) vom Gesetzgeber verboten werden muss, da diese gegen alle rechtlichen Normen verstößt. (Zusammenfassende Einschätzung – Seite 2)
Angesichts ihrer Geschichte hat die Bundesrepublik Deutschland eine besondere Verantwortung, wenn es um den Schutz vulnerabler Gruppen geht. Es ist noch nicht allzu lange her, dass hierzulande „lebensunwertes“ Leben aussortiert und vernichtet wurde. […] Gleichzeitig stellt selbst die Bundesregierung fest, dass behinderte Menschen in vielen Lebensbereichen nach wie vor benachteiligt sind und ihre gleichberechtigte Teilhabe eingeschränkt ist. Gerade die Mängel in der Gesundheitsversorgung behinderter Menschen sind schon lange bekannt. Diese hat die Zivilgesellschaft in ihrem ersten Parallelbericht zur Umsetzung der UN-BRK aufgelistet und dargestellt: Die Probleme reichen von Barrieren im Zugang zu Arztpraxen und anderen Einrichtungen der Gesundheitsversorgung über Kommunikationsbarrieren, fehlende Assistenz im Krankenhaus, restriktive Gewährung von Leistungen bis hin zu eklatanten Wissensdefiziten bei Ärzt*innen und Pflegekräften bezüglich verschiedener Beeinträchtigungen und den zugrundeliegenden Erkrankungen. (Vorbemerkung – Seite 3)
In einer aktuellen Publikation der DIVI von Anfang November 2020 wird jedoch auch das Lebensalter als denkbares Kriterium thematisiert: „Zu diskutieren wäre aber aus ethischer Sicht, ob jüngere Patienten gegenüber älteren Patienten, die einen Großteil ihres Lebenszyklus bereits gelebt haben, bevorzugt werden“ (S. 172). Die Autoren betonen, dass das Kriterium Lebensalter nicht in den DIVI-Kriterien enthalten sei, denn dafür sei ein „entsprechender gesellschaftlicher Deliberationsprozess erforderlich“ (S.177). (Frage 5: Nach welchen Kriterien richtet sich diese Entscheidung – Seite 5)
Eine Ex-post-Triage muss vom Gesetzgeber untersagt werden. Für eine Ex-ante-Triage muss ein diskriminierungsfreies, nachprüfbares und konsistentes Verfahren existieren, das auch rechtlicher Überprüfung standhält. Dazu muss auch eine zugrundeliegende Dokumentation der Priorisierungsentscheidung deutlich umfassender sein. (Frage 5: Nach welchen Kriterien richtet sich diese Entscheidung – Seite 6)
Es liegen ausreichend und umfänglich gesetzliche Vorgaben vor, verfassungsrechtlich und menschenrechtlich begründet, auf deren Basis der Gesetzgeber einen regulatorischen Rahmen für diskriminierungsfreie Priorisierungsentscheidungen bei Ex-ante-Situationen schaffen kann. (Frage 6: Welche gesetzlichen Vorgaben binden die Praxis bislang bei solchen Entscheidungen – Seite 7)
Die Aussagekraft der Parameter sowie der durch Skalen und Scores gewonnenen Werte ist in der Anwendung bei behinderten Menschen nach Ansicht des NW3 begrenzt, da sie sich auf einen durchschnittlichen Menschen beziehen und nicht für Menschen mit Behinderungen oder verschiedenen Vorerkrankungen abgeglichen wurden. Noch schwieriger wird es bei den nicht objektivierbaren Faktoren, wie der Einordnung von Informationen oder der Beurteilung des Gesamteindrucks der*des jeweiligen Patient*innen. Hier hängt das Urteil unter anderem von den Vorerfahrungen und Einstellungen der beurteilenden Personen ab […] So ergab eine Studie der Interessenvertretung Selbstbestimmt Leben in Deutschland e.V. (ISL) aus dem Jahr 2015 zur Thematik „Assistenz im Krankenhaus“, dass Menschen mit Behinderungen bereits in alltägliche Krankenhaussituationen auf viele Barrieren stoßen: Das Krankenhauspersonal weist Defizite in Kenntnis über Schwerbehinderungen auf, es lässt respektvolle Kommunikation vermissen, und durch fehlende Sensibilisierung kommt es zu Vorurteilen und Fehlern in der Behandlung. Entsprechend begründet das NW3 seine kritische Haltung gegenüber dem Kriterium der klinischen Erfolgsaussicht insbesondere mit zwei Beobachtungen: 1. Häufige Fehlprognosen bei behinderten Menschen; 2. Wirkmacht unbewusster Denkmuster. (Frage 7: Welchen Stellenwert hat die klinische Erfolgsaussicht der Behandlung bei der Triage – Seite 8)
Alle Menschen werden von unbewussten Denkmustern (unconscious biases) geleitet, die sich in Bezug auf behinderte Menschen häufig als Ableismus zeigen und zu nicht gerechtfertigten Urteilen allein aufgrund des Kriteriums der Behinderung führen. […] In seinen Abschließenden Bemerkungen nach der ersten Staatenprüfung forderte der UN-Fachausschuss für die Rechte von Menschen mit Behinderungen die Bundesrepublik dann auch auf, eine Strategie zur Bewusstseinsbildung zu entwickeln und entsprechende Schulungsprogramme umzusetzen. Dies ist jedoch bislang nicht geschehen. Daher muss befürchtet werden, dass behinderte Menschen allein aufgrund ihrer Behinderung im Falle einer Triage-Situation unter dem Druck einer schnellen Entscheidungsfindung rasch aussortiert werden. (Frage 7: Welchen Stellenwert hat die klinische Erfolgsaussicht der Behandlung bei der Triage – Seite 9-10)
Das NW3 hält das Kriterium der klinischen Erfolgsaussicht für ungeeignet, um in einer Triage-Situation ethisch und menschenrechtlich vertretbare Entscheidungen zu treffen. Das Kriterium der klinischen Erfolgsaussicht kann zum Einfallstor für mittelbare Diskriminierungen werden. (Frage 7: Welchen Stellenwert hat die klinische Erfolgsaussicht der Behandlung bei der Triage – Seite 10)
Nach Ansicht des NW3 darf der Gesetzgeber in dieser existentiellen Frage nicht untätig bleiben. Parallel zur Triage-Diskussion wird derzeit auch über eine Priorisierung zum Impfen gegen CVID-19 diskutiert. In diesem Gefolge hat der stellvertretende Fraktionsvorsitzende der FDP-Bundestagsfraktion, Stephan Thomae MdB, ein Gutachten des Wissenschaftlichen Dienstes des Deutschen Bundestages angefordert. Darin heißt es Medienberichten zufolge: „Der überwiegend vertretenen Auffassung, wonach die Priorisierung bestimmter Bevölkerungsgruppen beim Zugang zu Impfstoffen eines förmlichen Gesetzes bedarf, das zumindest die wesentlichen Kriterien für die Verteilung eines knappen Impfstoffes regelt, ist zuzustimmen“. Bei dieser Frage geht es also „nur“ um einen Impfvorrang. Wieso es nach Ansicht der Bundesregierung bei einer Entscheidung über Behandlungsressourcen zum Überleben keinerlei gesetzlichen Regelung bedarf, ist deshalb nicht nachzuvollziehen. (Frage 9: Sollte die Triage in Deutschland gesetzlich geregelt werden – Seite 13)
Da es sich bei einer Triage-Situation um ein äußerst komplexes Thema handelt, unterstützt NW3 die Forderung der Beschwerdeführenden, ein Gremium mit Expert*innen aus verschiedenen Bereichen einzusetzen. Dieses Gremium soll vorläufige Empfehlungen entwickeln und die Abgeordneten beraten. (Frage 9: Sollte die Triage in Deutschland gesetzlich geregelt werden – Seite 13)
Das NW3 sieht als Nachteil einer gesetzlichen Lösung die Gefahr, dass ableistische bis hin zu eugenischen Denkstrukturen Gesetzeskraft erhalten könnten. Um diese Gefahr zu reduzieren, bedarf es eines fachlich kompetenten divers zusammengesetzten Beratungsgremiums. Außerdem sollten die Hürden zum Einlegen von Rechtsmitteln niedrig gehalten werden. Fazit von NW3 zur zweiten Teilfrage: Nach Auffassung des NW3 überwiegen die Vorteile einer gesetzlichen Regelung die Nachteile. Die Nachteile lassen sich durch eine kluge Planung des Erarbeitungsprozesses reduzieren. (Frage 9: Sollte die Triage in Deutschland gesetzlich geregelt werden – Seite 15)

Stellungnahme nicht veröffentlicht (Stand: 02.01.2021)

Begleitende Pressemitteilung vom 18.12.2020:

Die Entscheidung über Leben oder Tod darf nicht einzelnen Mediziner_innen oder medizinischen Fachgesellschaften überlassen werden. Vielmehr muss der Gesetzgeber in einer so wesentlichen Grundrechtsfrage endlich aktiv werden und darf nicht länger schweigen.

Nun werden sie [Menschen mit Behinderungen] durch die derzeitigen Empfeh-lungen medizinischer Fachgesellschaften zur Priorisierung bei knappen Ressourcen weiter be-nachteiligt und ihr Lebensrecht wird in Frage gestellt. Insbesondere das Kriterium der „medizini-schen Erfolgsaussicht“, das bei Knappheit der Intensivkapazitäten in den Kliniken im Zweifelsfall angewandt wird, ist nach Ansicht der Verbände eine Diskriminierung, da die zugrundeliegenden Maßgaben unter anderem auf Menschen mit Behinderungen, aber auch auf alte Menschen, nicht anwendbar sind.

Der Gesetzgeber muss dafür sorgen, so die Verbände, dass es für die sogenannte Ex-ante Tri-age, bei der mehrere Patient_innen um zu wenige Intensivbetten konkurrieren, einen diskriminie-rungsfreien Rahmen gibt. Die Ex-post-Triage, also der Behandlungsabbruch zugunsten anderer, muss eindeutig gesetzlich verboten werden, da es sich hierbei um eine bewusste Tötung handelt.
Um die Belange von Menschen mit Behinderungen in der Corona-Pandemie und bei der gefor-derten Gesetzgebung besser zu berücksichtigen, fordern die Verbände außerdem ein die Bun-desregierung beratendes fachübergreifendes COVID-19-Expertengremium. Dies solle, ähnlich dem kanadischen Vorbild, auch mit behinderten Expert_innen von Selbstvertretungsorganisatio-nen besetzt werden.

Im Rahmen einer Anfrage des Bundesverfassungsgerichtes als „Sachkundige Dritte“ haben die Verbände außerdem Stellungnahmen zu einer Verfassungsbeschwerde von neun behinderten Personen erstellt, die sich gegen „gesetzgeberisches Unterlassen“ in Triage-Situationen wendet.

Stellungnahme nicht veröffentlicht (Stand: 02.01.2021)

Begleitende Pressemitteilung vom 17.12.2020:

Der Bundesverband evangelische Behindertenhilfe e.V. (BeB) hat auf Grundlage seiner Expertise beim Bundesverfassungsgericht ausgeführt, dass der Bundestag sich mit der Verteilung knapp werdender intensivmedizinischer Ressourcen im Rahmen der COVID-19 Pandemie beschäftigen muss.

Sollte es trotzdem zu Engpässen bei der medizinischen Versorgung kommen, muss der Bundestag nach Abwägung der rechtlichen, medizinischen und ethischen Aspekte einen gesetzlichen Rahmen zur Rechtssicherheit aller Beteiligten schaffen.

Karsten Isaack, Vorsitzender des Beirates im BeB, mahnt eindringlich: „Wir Menschen mit Behinderung oder psychischer Erkrankung erleben, dass wir in Arztpraxen oder im Krankenhaus nicht immer behandelt werden können. Spezifische Angebote zur gesundheitlichen Versorgung gibt es viel zu selten. Wie soll dann eine Triage diskriminierungsfrei ablaufen? Wir erwarten jetzt verantwortungsvolles Handeln der Politik.“

Drucksache 689/20 (Beschluss):

Der Bundesrat hat in seiner 997. Sitzung am 27. November 2020 beschlossen, zu den in der Drucksache 689/20 näher bezeichneten Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht von einer Äußerung und einem Beitritt abzusehen.

Drucksache 689/20

Der Rechtsausschuss empfiehlt dem Bundesrat, zu den folgenden, beim Bundesverfassungsgericht anhängigen Verfahren von einer Äußerung und einem Beitritt abzusehen, da bei diesen keine Umstände ersichtlich sind, die eine Stellungnahme des Bundesrates geboten erscheinen lassen:

[…]

c) Verfassungsbeschwerde
des Herrn K. A. und weiterer Damen und Herren
gegen
die staatlichen Maßnahmen zur Bewältigung der durch das COVID-19 ausgelösten Pandemie und die Untätigkeit der Bundesregierung, Vorkehrungen zu treffen, die Beschwerdeführenden vor Benachteiligungen wegen ihrer Behinderung und in Zusammenhang mit ihrem Alter im Rahmen der gesundheitlichen Versorgung zu schützen
wegen
Unvereinbarkeit mit Artikel 1 Absatz 1 GG, aus Artikel 2 Absätze 1 und 2, aus Artikel 3 Absatz 3 Satz 2 i. V. m. 20 Absatz 1 GG
– 1 BvR 1541/20 –

Der Deutsche Bundestag befasste sich in der 123. Sitzung des Ausschusses für Gesundheit am 10.12.2020 mit der Verfassungsbeschwerde. Unter Tagesordnungspunkt 1 heißt es:

Fachgespräch „Handlungs- und Entscheidungssituationen der Triage“
Hierzu wurde verteilt:
Zuleitungsschreiben 1 BvR 1541/20
19(14)254(1) Stellungnahme Deutscher Ethikrat

Die Sitzung fand nicht öffentlich statt. Teilnehmer des Fachgespräches sind nicht bekannt. Die Beschwerdeführer oder die sie unterstützenden Verbände und Institutionen wurden nicht geladen.

Stellungnahme nicht veröffentlicht (Stand: 02.01.2021)

Stellungnahme nicht veröffentlicht (Stand: 02.01.2021)

Stellungnahme nicht veröffentlicht (Stand: 02.01.2021)

Stellungnahme nicht veröffentlicht (Stand: 02.01.2021)

Stellungnahme nicht veröffentlicht (Stand: 02.01.2021)

Stimmen zur Debatte

Dr. Susann Kroworsch (Foto: Deutsches Institut für Menschenrechte)
Die Empfehlungen der Fachgesellschaften scheinen rechtlich problematisch, soweit sie Abstufungen beim Zugang zur Intensivmedizin zulasten von Menschen mit Behinderungen vorsehen. Insofern ist die Empfehlung des Ethikrats, dass die medizinischen Fachgesellschaften Regeln zur Abwägung vorgeben sollen, höchst kritisch zu sehen. Ethisch hochbrisante Fragen dürfen nicht allein von den Fachgesellschaften beantwortet werden. Vielmehr ist eine breite Diskussion der menschenrechtlichen Dimension erforderlich. Der Staat hat insoweit eine Wächterfunktion.
Das Recht auf gesundheitliche Versorgung von Menschen mit Behinderungen in der Corona-Pandemie, Deutsches Institut für Menschenrechte
Prof. Dr. Tonio Walter
(Foto: Universität Regensburg)

Denn für die ethischen Fragen haben Ärzte keine größere Fachkompetenz als wir alle. Und unsere Stimme ist der Gesetzgeber, den wir gewählt haben.

Lasst das Los entscheiden, Zeit Online

Prof. Dr. med. Leo Latasch (Foto: Deutscher Ethikrat)

Ich bin auch über diese Empfehlung ein wenig unglücklich. […] Als Kollege muss ich sagen: Das verbreitet unnötig Panik. […]
Egal, wie groß das Schadensereignis ist, es wird zuerst der behandelt, der es am meisten braucht, und zwar unabhängig von Alter, Herkunft, Vorerkrankungen oder sonst etwas. Selbst die Überlebenschancen spielen in diesem ersten Moment keine Rolle. Die Entscheidung hängt allein am medizinischen Zustand, also dem Erscheinungsbild, sowie an Vital- und Labordaten.

Wer das Beatmungsgerät am meisten braucht, bekommt es, Spektrum.de

Prof. Dr. Degener (Foto: EVH-Bochum)

Das Bochumer Zentrum für Disability Studies empfiehlt, – zeitlich befristete – an den Menschenrechten orientierte Leitlinien in einem rechtsstaatlichen Verfahren zu generieren. Behinderung darf weder unmittelbar noch mittelbar ein Kriterium für die Vorenthaltung oder Einstellung medizinischer Versorgung sein. Wenn der Staat diskriminierende Empfehlungen von Fachgesellschaften stillschweigend akzeptiert, macht er sich zum Komplizen dieser Diskriminierung.

BODYS-Stellungnahme „Inklusion in Zeiten von Katastrophen-Medizin“, Evangelische Hochschule Rheinland-Westfalen-Lippe

DOIG (Max Prigge)
Um den medizinischen Behandlungsteams, den bei einer Ressourcenknappheit eine enorme emotionale Belastung zugemutet wird, wenigstens bei der damit einhergehenden moralischen Herausforderung zu helfen, empfiehlt die DOIG die akut-/intensivmedizinische Behandlung der an Covid-19-Erkrankten ausschließlich in der Reihenfolge des Aufnahmezeitpunktes in den Krankenhäusern, ungeachtet deren Alters, einer chronischen Erkrankung oder einer Behinderung.
Stellungnahme der DOIG zur aktuellen Diskussion über die Zuteilung von Ressourcen / Triage in der Notfall- und Intensivmedizin bei Covid-19-Erkrankten, Deutsche Gesellschaft für Osteogenesis imperfecta
Bijan Fateh-Moghadam, Thomas Gutmann
Keine Selbstverwaltung der „Triage“ Deutschland hat eine hervorragende Intensivmedizin. Gleichwohl wäre es naiv, zu glauben, man könne den Ärztinnen und Ärzten ohne Weiteres auch die Entscheidung über die Grundrechte ihrer Patientinnen anvertrauen. In Deutschland sind die Erfahrungen mit Triagekriterien, die in ärztlicher „Selbstverwaltung“ aufgestellt werden, bislang außerordentlich beunruhigend. So hat für die […] „Ständige Kommission Organtransplantation der Bundesärztekammer“ seit langem wider alle medizinischen Daten verfügt, hochdringlichen Patienten mit alkoholbedingter Leberzirrhose, die noch nicht nachweislich ein halbes Jahr abstinent sind, den Zugang auf die Warteliste zu verweigern. Diese Personengruppe wurde damit zu rettungsunwertem Leben erklärt. Der 5. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat dies 2017 als offensichtlich gesetzes- und verfassungswidrig kritisiert. Geändert hat sich seither nichts.
Gleichheit vor der Triage, Verfassungsblog.de
Marlene Grunert (Redakteurin FAZ)
Was ist mit uneindeutigen Situationen? Im medizinischen Alltag greaten Ärzte allerdings regelmäßig in Situationen, die weniger eindeutig sind. […] Je uneindeutiger die Lage, desto größer ist das strafrechtliche Risiko. Die Grundorientierung des Verfassungs- und Strafrechts stößt hier an ihre Grenzen. Nicht nur aus diesem Grund mehren sich die Forderungen nach rechtlichen Regeln; deren Befürwortern geht es auch darum, Ärzte in ihrer Gewissensnot nicht alleinzulassen. Vor allem aber sollen Patienten vor Diskriminierung geschützt werden.
Wen soll man retten – und wen sterben lassen?, Frankfurter Algemeine Zeitung
Christiane Woopen (Vorsitzende Europäische Gruppe für Ethik der Naturwissen-schaften und der Neuen Technologien)
Die Medizinethiker[i]n Christiane Woopen fordert dagegen eine gesetzliche Regelung. “Die Situation der Triage ist vom Gesetzgeber nicht ausreichend geregelt”, kritisiert die Vorsitzende des Europäischen Ethikrats, der die EU-Kommission berät. “Da es sich um eine so wesentliche Entscheidung handelt, die das Recht auf Leben betrifft, sollte der Gesetzgeber dafür den Rahmen vorgeben, weil er nach der Verfassung eine Schutzpflicht gegenüber den Bürgern hat.” Zudem würden die Menschen, die eine solche Entscheidung treffen müssten, erheblich belastet. “Sie sollten sich dabei wenigstens von einer gesellschaftlichen Werteentscheidung getragen fühlen.”
Triage: Welcher Corona-Patient soll noch beatmet werden?, DER SPIEGEL
Jürgen Dusel (Foto: Henning Schacht)

Dusel verlangte eine Klarstellung zur Empfehlung der Deutschen Interdisziplinären Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin. “Ich habe die Sorge, dass in der Notsituation, die entsteht, wenn über die Verteilung von Ressourcen entschieden werden muss, dieses Papier falsch ausgelegt wird”, sagte der Behindertenbeauftragte.

Behindertenbeauftragter für Bundestagsdebatte zu Corona-Behandlungen, epd/evangelisch.de

Prof. Dr. Jochen Taupitz (Foto: Universität Mannheim)

[Die Medizin] kann lediglich sagen, ob die Anwendung eines Arzneimittels bei einem Patienten „sinnvoll“ ist. Beim Vergleich von Patienten und bei der Abwägung von Zielkonflikten ist die Medizin auf normative Vorgaben angewiesen. Zwar ist auch die Medizinethik Bestandteil der medizinischen Wissenschaft. Es existieren jedoch zahlreiche konkurrierende Richtungen der (Medizin-)Ethik, so dass sich die Frage stellt, welche dieser Richtungen maßgeblich sein soll. Diese Frage kann „die Ethik“ nicht aus sich heraus beantworten. Jedenfalls bezogen auf wesentliche Entscheidungen ist eine Antwort des Rechts gefordert – und nach der Wesentlichkeitslehre des BVerfG sogar eine solche des parlamentarischen Gesetzgebers.

Verteilung medizinischer Ressourcen in der Corona-Krise: Wer darf überleben?, MedR 38

Prof. Dr. Till Zimmermann (Foto: Universität Trier)

Für systemirrelevante Patienten bedeutet die Regel gänzliche Chancenlosigkeit im Wettbewerb um das Beatmungsgerät.

Wie auch immer: Der Gesetzgeber ist dringend zur Regelung der Triage aufgerufen

Wer stirbt zuerst?, Legal Tribune Online

Oliver Tolmein (Foto: Cordula Kropke)

Im Zusammenspiel mit den anderen Faktoren ergibt sich, dass nach den Ratschlägen der Intensivmediziner neben alten Menschen auch Menschen mit körperlichen und geistigen Beeinträchtigungen im Zweifelsfall in die Gruppe der nicht zu behandelnden Patienten eingestuft werden sollen. Ausdrücklich muss niemand empfehlen, dass Menschen mit Behinderungen keine Behandlung erhalten – die Benachteiligung ergibt sich mittelbar aus den normierten Kriterien. Die Weltgesundheitsorganisation WHO hat vor dem Hintergrund solcher Standards schon die Warnung vor einer Diskriminierung von Menschen mit Behinderungen bei der Bekämpfung der Covid-19 Pandemie ausgesprochen.

Von fit bis sterbend, FAZ

Foto: Magdalena Hürten Magdalena Hürten (Foto: Universität Regensburg)

Foto: Julia Rath Julia Rath (Foto: Universität Würzburg)

Auch aus theologischer Perspektive können die Handlungsempfehlungen der DIVI nicht einfach hingenommen werden. […] Eine Kirche, die nicht der Apathie einer bürgerlichen Religion (Johann Baptist Metz) verfällt, sondern sich der Ängste und Nöte der Menschen in der Welt annimmt, sollte ihre Stimme nutzen, um bestehende Missstände in den Handlungsempfehlungen anzuklagen, und aktiv daran mitarbeiten, gerechtere Richtlinien zu schaffen.

Die Würde des (nichtbehinderten) Menschen ist unantastbar., Julia Rath & Magdalena Hürten

 Raul Krauthausen

Wer garantiert also, dass Ärzt*innen in der Situation einer Krise und Katastrophe, einer akuten Not, nicht einfach ein Häkchen bei „Komorbidität“ machen oder die entsprechende Zahl der CFS eintragen, wenn sie den Rollstuhl oder einen nicht „normgerechten“ Körper sehen? Die Handlungsempfehlungen der Divi jedenfalls tun es nicht – denn sie schlagen ja genau das vor.

Corona: Menschen mit Behinderung droht durch Triage die Aussortierung, raul.de

Ulrike Lubek (Foto: LVR)

Aus Sicht des LVR muss eine Triage unbedingt diskriminierungsfrei gestaltet werden. Keinesfalls dürfen körperliche, geistige und psychische Beeinträchtigungen als besondere Risiken oder „Gebrechlichkeiten“ interpretiert werden, die per se gegen eine Behandlung sprechen könnten.

Erkrankte Menschen mit Behinderungen dürfen in der Corona-Krise nicht medizinisch benachteiligt werden, LVR

Dr. Ehrhart Körting (Foto: Claralotta CC BY-SA 4.0)

Die klinisch-ethischen Empfehlungen gehen zwar davon aus, dass Menschenleben nicht gegen Menschenleben abgewogen werden dürfen und die Priorisierung von Patienten ausschliesslich am Kriterium der klinischen Erfolgsaussichten zu orientieren ist. Im dazu gehörigen Handblatt wird das aber nicht mit der notwendigen Klarheit deutlich.

Entscheidungen zur Auswahl von an COVID-19 erkrankten Patienten, die bei nicht ausreichenden Ressourcen Hilfe durch ein Beatmungsgerät erhalten, und das Recht auf Leben nach Art.2 Abs.2 Satz 1 GG, Dr. Ehrhart Körting

Frank Pergande (Foto: Redaktion FAZ)

[…] Solange sich der Gesetzgeber nicht eingeschaltet hat, bleibt Rechtsunsicherheit, Empfehlungen hin, Richtlinien her. So bleibt zu hoffen, dass künftig Triage nicht mehr nur etwas für ärztliche Fachkreise ist, sondern „eine breite öffentliche Debatte Vorgaben für die Triage auslotet“. Viele Beteiligte und Betroffene sind bislang noch gar nicht zu Wort gekommen. […]
Corona sollte schon jetzt Lehre genug sein, das anzupacken. Haben sich in dieser Woche nicht gerade Bundestagsabgeordnete darüber beschwert, dass die bisherigen Corona-Maßnahmen am Parlament vorbeigingen, obwohl sie für die Gesellschaft so wichtig sind? Wenn das Parlament meint, sich da Kompetenzen zurückholen zu müssen, dann müsste es sich konsequenterweise auch mit Triage-Grundsätzen beschäftigen. Aber wer wagt das?

Triage braucht ein Gesetz, FAZ

read & talk: Triage – Eine Sendung der Arbeitsgemeinschaft Behinderung und Medien

Michelle Bachelet Jeria (Hohe Kommissarin für Menschenrechte der Vereinten Nationen)

The High Commissioner also expressed concerns about discrimination and stigma against persons with disabilities during the COVID-19 pandemic.

“I have been deeply disturbed by reports that the lives of persons with disabilities may somehow be given different weight than others during this pandemic,” she said. “Medical decisions need to be based on individualized clinical assessments and medical need, and not on age or other characteristics such as disability.”

COVID-19: Bachelet urges States to take extra steps to include people with disabilities, UN Human Rights Office Of The High Commissioner

Hans-Jürgen Papier (Foto: Wikipedia / Tobias Klenze / CC-BY-SA 4.0.)

Leben darf nicht gegen Leben abgewogen werden. Jedes Leben ist gleichrangig und gleich wertvoll, es genießt den gleichen Schutz. Und es geht nicht an, dass dann jemand entscheidet, dieses oder jenes Leben ist vorzugsweise zu schützen oder zu retten. Ich kann den Ärzten also nur raten, sich an diese Empfehlungen nicht blindlings zu halten.

Selbst in Kriegszeiten werden die Grundrechte nicht angetastet, Süddeutsche Zeitung

Dr. Sigrid Arnade und

H.-Günter Heiden

Das Konzept des Ableismus […] war offensichtlich beim Verfassen der vorgeschlagenen Empfehlungen im Hintergrund wirksam und wird es auch bei deren Umsetzung werden. Im Ernstfall […] werden vermutlich durchaus Entscheidungen getroffen, die auf einer vermeintlichen „Lebenswert“ – „Nicht Lebenswert“-Alternative beruhen.

Behinderung darf kein Kriterium bei Priorisierungs-Entscheidungen sein!, Interessensvertretung Selbstbestimmt Leben

Prof. Dr. Annette Dufner (Foto: Universität Bonn)

[Zur Triage]
Ich fürchte, mit absoluter Sicherheit kann Diskriminierung nicht ausgeschlossen werden.

Wir dürfen die Ärzte nicht alleinlassen, Zeit Online

Kirsten Achtelik

Der deutsche Ethikrat hat sich zu dem Papier zwar nicht konkret geäußert, weist in einer Ad-hoc-Empfehlung zur Coronakrise aber einen »rein utilitaristischen Modus des Abwägens im Sinne einer bloßen Maximierung von Menschenleben oder Lebensjahren« zurück.

Entscheidung über Leben und Tod, neues deutschland

Annette Standop
Genauso wenig akzeptieren können wir, dass zusätzliche Auswahlkriterien angelegt werden wie beispielsweise das Vorliegen bestimmter Komorbiditäten (zusätzlicher Erkrankungen) sowie die vermutete verbleibende Lebenserwartung oder -qualität.
Die Würde aller Menschen ist unantastbar!, BAG Behindertenpolitik Bündnis 90/Die Grünen
Dr. Sigrid Arnade
Sie kritisiert auch den Deutschen Ethikrat, weil dieser in seiner Ad-hoc-Empfehlung zu dem Thema die Verantwortung des Staates bereits als erfüllt ansieht, wenn er lediglich grobe Vorgaben erstellt. „Hier geht es um die fundamentalen Grundlagen unseres Zusammenlebens. Deshalb muss der Deutsche Bundestag eine eindeutig menschenrechtlich fundierte Position beziehen,“ so Dr. Sigrid Arnade.
Corona: Wer wird behandelt, wenn es knapp wird? – Bundestag darf nicht länger schweigen, LIGA Selbstvertretung
Dr. Markus Wehler (Direktor Zentralen Notaufnahme Uniklinik Augsburg) & Prof. em. Dr. iur. Reinhard Merkel (ehem. Ehtikrat)
Über allem aber schwebte die Frage, ob es überhaupt Regelungen braucht und wer sie gegebenenfalls schaffen sollte. […] Praktiker Wehler sprach sich wie auch Rechtslehrer und Ex-Ethikratsmitglied Merkel dafür aus, den Medizinern nur einen Korridor vorzugeben, der negativ zum Beispiel verbotene Diskriminierungen ausschließt, ihnen aber sonst die freie Entscheidung belässt. Unter Diskriminierungen fasste er auch bestimmte Vorerkrankungen, die für die Triage-Entscheidung keine Rolle spielen dürften, beispielhaft nannte er Diabetes und Herzerkrankungen.
Wie entscheiden, wer sterben muss?, Legal Tribune Online
Dr. Katja Gelinsky
(Foto: Konrad-Adenauer Stiftung)

Die Gemengelage von individualethischer, patientenzentrierter Orientierung einerseits und überindividuellem Bestreben, möglichst viele Menschenleben zu retten, bildet ein grenzüberschreitendes Konfliktfeld. Hinzu kommen nationale Besonderheiten, in Deutschland etwa verfassungsrechtliche Vorgaben zum Schutz der Menschenwürde. […] Bemerkenswert sind aber auch sich deckende Leerstellen in der Triage-Debatte. So gibt es bislang in keinem der betrachteten Länder Triage-Empfehlungen der Parlamente oder ein Triage-Gesetzgebungsverfahren.

Triage-Empfehlungen grenzüberschreitend betrachtet, Konrad-Adenauer-Stiftung

Prof. Dr. Weyma Lübbe (Prof. für Praktische Philosophie an der Universität Regensburg)

An diesem Grundsatz sollte und kann auch in der Corona-Krise festgehalten werden. Das klappt nur, wenn man begleitend zu einer eventuell nötig werdenden Triage öffentlich an ihrer nichtutilitaris-tischen Begründungslogik festhält. Am besten gelingt das, wenn man das gesundheitspolitische Verteilungsgeschehen, wie es die Rechtswissenschaften seit jeher tun, nicht in terms von Nutzen oder Werten, sondern in terms von Rechten beschreibt. Wie jeder Jurist weiß, müssen Rechte des Einzelnen nicht automatisch weichen, nur weil ihnen Rechte mehrerer Einzelner gegenüber stehen. Rechte funktionieren „nonaggregativ“. In Knappheitslagen müssen sie nicht maximiert, sondern auf gerechte Weise spezifiziert werden.

Corona-Triage, Verfassungsblog.de

AbilityWatch versteht sich als Teil einer modernen Behindertenbewegung in Deutschland. Als Aktionsplattform wollen wir Politik kritisch begleiten, Fragen aufwerfen und das soziale Modell von Behinderung etablieren. AbilityWatch fordert die Vertretung für Menschen mit Behinderung von Menschen mit Behinderungen. Als DPO (Disabled People’s Organisation) organisieren wir Demonstrationen, betreiben Öffentlichkeitsarbeit und werden weiterhin mit provokanten Aktionen auf die fehlende Gleichberechtigung und mangelnde Einhaltung der UN-Behindertenrechtskonvention hinweisen.