zum Beschluss des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 23. September 2025
– 1 BvR 2284/23 –
– 1 BvR 2285/23 –
Triage II
Das BVerfG hat auf die Verfassungsbeschwerde von Ärztinnen und Ärzten entschieden, dass das „Triagegesetz“, welches der Bundestag 2022 beschlossen hat, nichtig ist. Das heißt, § 5c Infektionsschutzgesetz kann und darf nicht angewendet werden.
Dieses Ergebnis ist grundsätzlich zu begrüßen. Die Zuteilung von knappen intensivmedizinischen Ressourcen und die Frage, wie diese rechtlich und ethisch zu organisieren sind, ist kein Gegenstand des Infektionsschutzes. Das Problem kann demgemäß dort auch nicht geregelt werden, sondern ist – wie AbilityWatch e. V. dies von Anfang an gefordert hat – grundsätzlich und nicht nur auf „Covid-19“ bezogen zu regeln.
„Es ist erschütternd, wie einfach es sich alle Beteiligten bei der Triage machen wollen. Da sind Ärztinnen und Ärzten, denen es um ihre Berufsrechte geht, und da ist ein Gesetzgeber, der der lästigen Pflicht des Bundesverfassungsgerichts nachkommen musste. Eine vernünftige Auseinandersetzung mit den relevanten Fragen zur fairen Aufteilung von Risiken in Triagesituationen und den damit verbundenen Diskriminierungsproblematiken wird leider nicht geführt“, so Nancy Poser, einer der Beschwerdeführerinnen zum Triage-I-Urteil.
Dass § 5c Infektionsschutzgesetz für eine Triage-Regelung nicht der richtige Ort ist und dass das Gesetz, so wie es das Bundesgesundheitsministerium entworfen und der Deutsche Bundestag beschlossen hat, den Interessen auch von Menschen mit Behinderungen in großen Teilen zuwiderläuft, war bereits im Gesetzgebungsverfahren klar und ein wichtiger Grund für AbilityWatch und anderen Gruppen der Behindertenselbstvertretung, dieses Gesetz abzulehnen.
Berufsfreiheit
Die Ärztinnen und Ärzte hatten sich jedoch in ihren beiden Verfassungsbeschwerden, über die das BVerfG jetzt entschieden hat, gegen die gesetzliche Regelung vor allem deshalb gewehrt, weil diese in ihre Berufsausübungsfreiheit, insbesondere in ihre sogenannte Therapiefreiheit, eingreife.
Das BVerfG hat in seiner Entscheidung festgestellt, dass das tatsächlich der Fall ist – und nennt zwei Beispiele dafür: dass in § 5c Infektionsschutzgesetz genannte Kriterium der „aktuellen und kurzfristigen Überlebenswahrscheinlichkeit“ und auch das Verbot der Ex-Post-Triage. Beide Regelungengreifen in die Berufsausübungsfreiheit der Ärzte ein. Unzulässig ist ein solcher Grundrechtseingriff nur dann, wenn er verfassungsrechtlich gerechtfertigt ist. Genau dies ist beim Triage-Gesetz nicht der Fall, und zwar wegen fehlender Gesetzgebungskompetenz des Bundes.
Das Bundesverfassungsgericht hat also nicht darüber entschieden, ob Ärzte in der im Gesetz festgeschriebenen Weise eingeschränkt werden dürften, weil beispielsweise der Schutz vor Diskriminierung dies verlangt. Das Gericht hat lediglich festgestellt, dass der Bundesgesetzgeber für diese Regelungen keine Gesetzgebungskompetenz hatte und es deshalb nichtig ist.
Aussagen darüber, wie ein Triage-Gesetz aussehen sollte und was es genau regeln könnte oder auf keinen Fall regeln darf, trifft das Bundesverfassungsgericht in seinem aktuellen Beschluss nicht. Auch eine Ex-Post Triage, also die nachträgliche Wegnahme bereits an einen Patienten zugeteilter Ressourcen und damit letztlich ggf. eine aktive Tötungshandlung, ist durch den Beschluss in keiner Weise legitimiert worden.
Neue Debatte zur Triage
Die Diskussion um die Triage ist damit neu eröffnet – und das zurecht. Die bisherige Triage-Regelung wurde und wird von uns abgelehnt (s. dazu auch anliegende Stellungnahme für das BVerfG).
Wie kann und sollte es jetzt weitergehen? Das Bundesverfassungsgericht hat in der Triage-I-Entscheidung vom 16.12.2021 klar formuliert: „Der Gesetzgeber hat Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG verletzt, weil er es unterlassen hat, Vorkehrungen zu treffen, damit niemand wegen einer Behinderung bei der Zuteilung überlebenswichtiger, nicht für alle zur Verfügung stehender intensivmedizinischer Ressourcen benachteiligt wird.“ Das gilt noch immer. Eine Triage-Regelung, die Menschen mit Behinderungen vor Benachteiligung schützt, muss noch immer geschaffen werden. Nichtstun ist also keine Lösung.
Das Bundesverfassungsgericht hat in dem Beschluss Triage II unterstrichen, dass die Berufsausübungsfreiheit der Ärzte insoweit beachtet werden muss, als dass sie nur durch ein formell und materiell rechtmäßiges Gesetz beschränkt werden kann.
Die Vorstellung von Teilen der Ärzteschaft, möglichst frei über Leben und Tod entscheiden zu dürfen, sowie das Interesse von Menschen mit Behinderungen, bei Ressourcenknappheit im Gesundheitswesen nicht strukturell benachteiligt zu werden, müssen miteinander abgestimmt werden. Hierzu ist es zudem notwendig, dass das Gesundheitswesen insgesamt offener und weniger diskriminierend wird. Auch ein tatsächlicher Diskussionsprozess auf Augenhöhe mit den Betroffenen sollte dieses Mal Bestandteil des Diskurses sein. Er hätte die herbe Schlappe des Bundesgesetzgebers vor dem Bundesverfassungsgericht ersparen können.
Fazit
Klargestellt hat das Bundesverfassungsgericht jedoch insbesondere: „Nach der aktuellen Kompetenzverteilung des Grundgesetzes tragen die Länder maßgeblich die Verantwortung für diskriminierungssensible Allokationsregeln im Sinne reiner Pandemiefolgenregelungen, die auch länderübergreifend tragfähige Entscheidungen ermöglichen müssen.“ Wenn man vermeiden will, dass jedes Bundesland nun die Verteilung knapper Ressourcen selbständig regelt, muss der Bund einen neuen Weg suchen, Gesetzgebungskompetenz zu erlangen – was sicherlich grundsätzlich vorzugswürdig wäre.
„Wir werden die Ärzteschaft, ihre Verbände und insbesondere die Politik nicht aus der Pflicht nehmen, sich mit der Frage auseinanderzusetzen, nach welchen Kriterien Triage-Entscheidungen zu fällen sind. Die heutige Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts gibt uns als Gesellschaft die Möglichkeit, diese Debatte ehrlich und auf Augenhöhe erneut zu beginnen.“, zeigt sich Constantin Grosch, Vorsitzender des AbilityWatch e. V. erleichtert.
Anhang
Stellungnahme zu den Verfassungsbeschwerden durch AbilityWatch e. V. – pdf
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