Selektionsgesetz für Deutschland

2.11.2022 | 2 Kommentare

Nachdem das Bundesverfassungsgericht am 16. Dezember 2021 aufgrund unserer Verfassungsbeschwerde aus dem Jahr 2020 geurteilt hatte, dass der Gesetzgeber unverzüglich geeignete Vorkehrungen treffen müsse, um Menschen mit Behinderungen auch in Triage-Situationen vor Diskriminierung zu schützen, stimmt nun der Bundestag am 10. November über einen entsprechenden Gesetzesentwurf ab.

In unserer Stellungnahme haben wir deutlich gemacht, dass das Gesetz seiner Aufgabe nicht gerecht wird. Ganz im Gegenteil manifestiert es die grundsätzliche Diskriminierung in Triage-Fällen von Menschen mit Behinderungen und anderen vulnerablen Gruppen.

In der Bewertung des Entwurfs ist also zugrunde zu legen, dass er somit […] en passant das grundlegende Verfassungsprinzip der Lebenswertindifferenz abschaffen soll, welches gerade zum Schutz der Schwächsten einer Gesellschaft besteht. Die Entscheidung, ob eine Person ihre Chance auf Leben nutzen darf oder nicht, soll künftig einzig nach dem Prinzip des „survival of the fittest“, dem Recht des Stärkeren, getroffen werden.
Wie hierdurch der Schutz von Menschen mit Behinderung vor Benachteiligung sichergestellt werden soll, ist nicht nachzuvollziehen.

Stellungnahme von AbilityWatch zum Kabinettsentwurf eines Gesetzes zur
Änderung des Infektionsschutzgesetzes, S.3

 

Besonders frappierend ist, dass sich der Gesetzgeber nicht mit Alternativen zum Kriterium der „aktuellen und kurzfristigen Überlebenswahrscheinlichkeit“ beschäftigt zu haben scheint. Jedenfalls wird weder beim Prüfungspunkt „Alternativen“, noch in der Begründung auf andere Zuteilungskriterien eingegangen. AbilityWatch hatte mehrfach andere Prinzipien, wie das Dringlichkeits-, das Zufalls- oder Prioritätsprinzip ins Gespräch gebracht.

Auch anderer Verbände und Institutionen, wie das Deutsche Institut für Menschenrechte (DIMR) kritisiert den Gesetzesentwurf massiv und schlägt gleichfalls eine Randomisierung vor:

„Das im Gesetzentwurf der Bundesregierung vorgesehene Kriterium der Überlebenswahrscheinlichkeit birgt die Gefahr, dass in der Praxis ungewollt unbewusste Benachteiligungen in die Zuteilungsentscheidung einfließen“, erklärt Leander Palleit, Leiter der Monitoring-Stelle UN-Behindertenrechtskonvention des Instituts. Eine Zufallsentscheidung in der Triage wäre die bessere Möglichkeit, ohne Ansehung der Person und damit diskriminierungsfrei zu entscheiden. Damit wäre das Risiko, nicht behandelt zu werden, tatsächlich und nicht nur scheinbar auf alle gleich verteilt.

Pressemitteilung des DIMR vom 28.09.2022: Triage-Gesetzgebung braucht breite parlamentarische Debatte

 

Wir appellieren weiterhin an die Fraktionen im Bundestag eine breite öffentliche Debatte zu führen und mindestens die Abstimmung über den Gesetzesentwurf freizugeben.