Mit blankem Entsetzen haben wir das Schreiben des Tuttlinger Kreis-Klinikums und des Landratsamts in Tuttlingen an Einrichtungen der Alten- und Behindertenhilfe zur Kenntnis genommen. In diesem werden die Betreiber unverblümt dazu aufgefordert dafür zu sorgen, dass alte, behinderte oder erkrankte Personen im Falle einer Corona-Infektion nicht mehr behandelt werden. Wie befürchtet wird nun die Triage in den nicht-klinischen Bereich verlagert und bestimmte Personengruppen zum Wohle der Gesamtbevölkerung geopfert.

Was ist passiert?

Im genannten Schreiben werden zunächst die prekären Versorgungsengpässe auf den Intensivstationen dargestellt, um dann Einrichtungsbetreiber zu eigenem Handeln aufzurufen.

So heißt es:

„Sie kennen ihre Bewohnerinnen und Bewohner, Sie können den mutmaßlichen oder tatsächlichen Willen feststellen und Sie können durch Ihr Handeln sehr viel zur Verhinderung einer Überlastung der zur Verfügung stehenden Behandlungsressourcen beitragen“.

Es folgt der Appell, die Ressourcen der klinischen Intensiv- und Notfallversorgung denjenigen zur Verfügung zu stellen, die “mit einer guten Prognose mit Blick auf eine Lebensverlängerung bei guter Lebensqualität verbunden ist.”

Kurz: die Mitarbeitenden der Einrichtungen sollen auf Bewohner*innen, Angehörige und gesetzliche Betreuer*innen mit dem Ziel einwirken, dass diese sich möglichst gegen eine intensivmedizinische Behandlung bei Corona entscheiden – besonders falls die Prognose von den Mitarbeitenden des Heimes als schlecht bewertet wird. 

Später werden die Mitarbeitenden der Einrichtungen gar dazu aufgefordert, selbst zu entscheiden, Bewohner*innen mit schlechten Behandlungsaussichten (festgestellt von wem?) nur noch der palliativen Behandlung zuzuführen.

Wonach sollen die Mitarbeitenden entscheiden? Sollen ältere Personen oder mehrfach behinderte Menschen nicht mehr bei Corona behandelt werden? Sind diese Leben nicht lebenswert? Ist eine „Lebensverlängerung bei guter Lebensqualität“ hier nicht mehr möglich? Und wie definiert der Landkreis Tuttlingen Lebensqualität? Stellen wir in Deutschland jetzt ernsthaft wieder solche Fragen? Und das öffentlich und ohne Schamgefühl?

Menschenleben wird bewertet und aussortiert

Damit soll Altenpfleger*innen und Pfleger*innen der Behindertenhilfe die Entscheidung darüber überlassen werden, wer ein Recht auf Behandlung hat. Ärztinnen und Ärzte entziehen sich so der Verantwortung der Triage-Entscheidung und überlassen diese den Mitarbeitenden in den Einrichtungen. 

Es ist zutiefst verstörend, dass ein Sozialdezernent und ein Klinikleiter in Deutschland Personen nach “Lebensqualität” kategorisieren möchten und eine medizinische Behandlung von dieser abhängig machen wollen. Dabei lässt der Landkreis gemeinsam mit dem Krankenhaus keine Gelegenheit aus, um latent sozialen Druck auszuüben: Es wird vorgerechnet, wie viel Mehraufwand ein Corona-Patient macht; wie geringe Chancen bei einer Behandlung bei betagten Menschen oder jenen mit Begleiterkrankungen vorliegen und natürlich wird an die Solidarität appelliert, denn es gäbe ja auch Menschen, die noch von einer Behandlung (und dem Überleben) profitieren könnten.

Hier wird der Solidaritätsgedanke in der Pandemie auf das Perverseste missbraucht und Menschenleben in lebenswert und unlebenswert eingeteilt.

Caritas zeigt sich schockiert

Der Angehörigen-Beirat der Caritas zeigt sich schockiert:
“Wir sind fassungslos angesichts der Handlungsaufforderung, aber auch angesichts der Diktion, in dem zitierten Schreiben“, sagt Gerold Abrahamczik, Sprecher des Angehörigenbeirates im CBP in einer Pressemitteilung.

Dem schließen wir uns vollumfänglich an! Es ist unerträglich, wie Menschen mit Behinderungen und Senior*innen Druck zum Verneinen des eigenen Lebenswunsches gemacht wird bzw. Angehörigen, diese Entscheidung zu treffen. Es ist das Eine, die aktuell höchst kritische Situation in den Krankenhäusern zu schildern. Aber es ist etwas Anderes, dafür zu werben, im Zweifel eine lebensrettende Behandlung für einen selbst oder nahe Angehörige auszuschließen. Insbesondere dann, wenn diese Aufforderung zielgerichtet nur an Menschen mit Behinderungen und ältere Menschen adressiert wird, verbunden mit dem Hinweis darauf, dass die jeweilige Lebensqualität und -dauer im Vergleich zu anderen Patient*innen eine Sinnhaftigkeit infrage stellt. 

AbilityWatch warnte bereits 2020

AbilityWatch hat genau vor dieser Argumentation bereits im Jahr 2020 gewarnt, als die Deutsche Interdisziplinäre Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (DIVI) mit ihren Empfehlungen zur Triage die Büchse der Pandora öffnete. Damals wurden bereits Merkmale vorgeschlagen, die nur bestimmte Bevölkerungsgruppen aufweisen und die so für eine generell schlechtere Bewertung für diese im Triageverfahren sorgen würden. 

Wohin soll diese Entwicklung führen? Soll der Weg aus der Pandemie nun über die Deklaration von “Ballastexistenzen” führen? Opfern wir für das Wohl der vielen die vermeintlich Schwachen? So war das Grundgesetz nicht gedacht!

Es ist längst an der Zeit, dass das Bundesverfassungsgericht den moralischen Kompass der Gesellschaft wieder einnordet. Bereits vor anderthalb Jahren haben mehrere Beschwerdeführer mit Unterstützung von AbilityWatch in Karlsruhe Verfassungsbeschwerde eingelegt. Ziel der Beschwerde ist es, den Gesetzgeber dazu zu bringen, Diskriminierung aufgrund von Merkmalen wie Alter, Behinderung, Geschlecht, Herkunft, usw. auszuschließen. Eine Entscheidung steht aus. Um Spenden für das Verfahren wird gebeten.

AbilityWatch verurteilt das Schreiben und die Argumentation des Landkreises und Klinikums Tuttlingen aufs Schärfste und ruft zu einer Rücknahme dessen auf!


Weitere Ressourcen zu diesem Thema

Schreiben des Landkreises und Klinikums Tuttlingen an Einrichtungen der Behinderten- und Altenhilfe – PDF
Vom Landkreis Tuttlingen verschicktes Formblatt zur Ergänzung einer Patientenverfügung – PDF
Stellungnahme des Landkreises Tuttlingen – PDF
Verweigerungsschreiben der Stiftung St. Franziskus – PDF
Pressemitteilung des Angehörigen-Beirats der CBP – PDF