Die Terminvergabe für Corona-Schutzimpfungen erfolgt in mehreren Bundesländern über die Website www.impfterminservice.de. Hierbei handelt es sich um eine Webseite der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV). Das Problem: die Internetseite ist nicht barrierefrei. Blinde, sehbehinderte, gehörlose, motorisch eingeschränkte Menschen und Benutzer*innen mit Lernschwierigkeiten können das Angebot nicht oder nur eingeschränkt nutzen. Die KBV ist sich dieses Problems auch bewusst.1Dank der EU-Richtlinie 2016/2102 müssen öffentliche Stellen, und Anbieter die Aufgaben für staatliche Einrichtungen wahrnehmen, barrierefrei sein. Dazu müssen sie eine Erklärung auf ihrer Webseite abgeben. Für die KBV mit Sitz in Berlin ist hierfür das Gesetz über die barrierefreie Informations- und Kommunikationstechnik Berlin (BIKTG Bln) maßgeblich. Sie nennt in ihrer Erklärung zur digitalen Barrierefreiheit folgende Hürden:2Quelle: www.impfterminservice.de/barrierefreiheit abgerufen am 17.01.2021

  • Fehlende Alternativtexte für Bedienelemente und Grafiken
  • Beschränkung der Bildschirmausrichtung
  • Anpassbare Textabstände
  • Kein sichtbarer Fokus
  • Fehlende Alternative für komplexe Zeigergesten
  • Hauptsprache wird nicht angegeben
  • Fehlende leichte Sprache und Gebärdensprache
Heiko Kunert, Gründungsmitglied von AbilityWatch e.V. und Geschäftsführer des Blinden- und Sehbehindertenvereins Hamburg e.V.

Anzunehmen ist, dass bei einer gründlichen Prüfung der Website weitere Barrieren sichtbar würden. Es zeigt sich einmal mehr, dass die Belange behinderter Menschen im Zusammenhang mit der Corona-Pandemie nicht oder nur zweitrangig berücksichtigt werden. Dabei ist die KBV als Körperschaft öffentlichen Rechts zur digitalen Barrierefreiheit verpflichtet. Allerdings sind Ausnahmen zur Herstellung der Zugänglichkeit gestattet. Die für die KBV zuständige Verordnung führt aber explizit aus:

(2) Insbesondere bei Neuanschaffungen, Erweiterungen und Überarbeitungen ist die barrierefreie Gestaltung bereits bei der Planung, Entwicklung, Ausschreibung und Beschaffung zu berücksichtigen.

(3) Von der barrierefreien Gestaltung bestimmter Teilbereiche der im § 3 Absatz 2 genannten Auftritte und Inhalte können öffentliche Stellen im Ausnahmefall absehen, soweit sie durch eine barrierefreie Gestaltung im Sinne des Artikels 5 Absatz 2 und 4 der Richtlinie (EU) 2016/2102 unverhältnismäßig belastet würden. Insbesondere mangelnde Prioritätensetzung, Zeit und Kenntnis sind keine Gründe für die Annahme der Unverhältnismäßigkeit. […]

§ 4 Abs. 2 und 3 BIKTG Bln

Die KBV schreibt dazu:

„Wir arbeiten daran, die uns bekannten, bestehenden Barrieren im Rahmen einer Überarbeitung der Dienste bis Mitte des Jahres 2021 zu beheben und somit die Zugänglichkeit der Seite zu verbessern.“

www.impfterminservice.de/barrierefreiheit – abgerufen am 17.01.2021
Auch Kerstin Hagemann, vom Hamburger Verein Patienten-Initiative, kritisiert das vorgehen scharf.

Ein so später Termin ist skandalös. Gerade im ersten Halbjahr dieses Jahres wird die Zahl der Impfungen stark steigen. Insbesondere in diesem Zeitraum wird die KBV-Website dringend gebraucht, gerade von Menschen mit Behinderung. Dies macht bereits eine Zahl deutlich: Rund zwei Drittel der blinden und sehbehinderten Menschen in Deutschland sind im Seniorenalter und gehören somit zu den prioritär zu impfenden Menschen.

Der Accessibility-Experte Wolfgang Wiese verweist darauf, dass die oben genannten Barrieren deutlich schneller abbaubar wären als von der KBV in Aussicht gestellt.3Quelle: xwolf.de – abgerufen am 17.01.2021 Zudem geht er davon aus, dass die oben zitierte Erklärung zur digitalen Barrierefreiheit ungültig sein könnte. So werde dort angegeben, dass sie bereits im März 2020 erstellt worden sei4Screenshot impfterminservice.de - Text: Wann wurde die Erklärung zur Barrierefreiheit erstellt? Diese Erklärung wurde am 31.03.2020 erstellt bzw. überarbeitet.. Die Internetseite selbst sei aber erst im November beauftragt worden. Zudem verweise der IT-Dienstleister der KBV, das eigene IT-Tochterunternehmen kv.digital GmbH, als Grund für die fehlende Barrierefreiheit auf eine vorgenommene Priorisierung. Dies gilt aber – wie oben bereits aufgezeigt – gerade nicht als Ausnahmegrund.

Die beauftragte Agentur gibt an, erst im November beauftragt worden zu sein und keine Zeit für die barrierefreie Umsetzung gehabt zu haben.

Die kassenärztliche Bundesvereinigung verweist als barrierefreie Alternative zur Internetseite auf die Telefonhotline 116117. Diese ist derzeit allerdings häufig stark überlastet und zudem für viele Menschen mit Behinderung keine adäquate Alternative, wie z.B. für Menschen mit Sprachbehinderung oder für gehörlose Menschen.

Dass im Jahr 2021 und bei einem so elementaren Thema wie der Corona-Schutzimpfung Menschen mit Behinderung einmal mehr ausgegrenzt werden, ist inakzeptabel und vollkommen unverständlich. Die für die KBV zuständige Aufsichtsbehörde ist das Bundesgesundheitsministerium. Offensichtlich genießt das Thema Barrierefreiheit auch dort keine hohe Priorität.

AbilityWatch hat bereits im Dezember mit 13 weiteren Organisationen Empfehlungen für barrierefreie Impfzentren und die damit zusammenhängenden Prozesse herausgegeben. Eine entsprechende Erklärung ist bei Der Neuen Norm erschienen. Bestandteil der Empfehlungen war auch der Hinweis auf elektronische Terminvergaben und die hierfür notwendige Barrierefreiheit. Auch der Deutsche Behindertenrat kritisierte vor wenigen Tagen mangelnde Barrierefreiheit rund um das Thema Impfen.

Wir haben Rückmeldungen aus unterschiedlichen Verbänden zu bestehenden Mängeln erhalten – von fehlenden digitalen Informationsangeboten über die ungünstige Lage der Impfzentren bis hin zu baulichen Barrieren vor Ort.

Hannelore Loskill, Vorsitzende des DBR-Sprecherrat

Update 18.01.2021: Auch die Webseite zur Terminvergabe des Landes Rheinland-Pfalz weist eklatante Mängel auf. So muss zur Anmeldung ein Bild-Captcha5Screenshot impftermin.rlp.de: Formular mit Bild-Captcha bewältigt werden. Diese sind für sehbehinderte Nutzer*innen nicht lesbar und damit durchführbar. Eine Alternative wird nicht angeboten. Die selbstständige Anmeldung für einen Impftermin über die Webseite ist daher in Rheinland-Pfalz für viele sehbehinderte Menschen nicht nutzbar. Eine laut BITV-RP vorgeschriebene Erklärung über die Barrierefreiheit der Webseite ist zudem ebenfalls nicht vorhanden.