Stellungnahme zum Teilhabestärkgungsgesetz

5. Jan. 2021

Dokumentenkopf: Referentenentwurf des BMAS (Teilhabestärkungsgesetz). Bearbeitungsstand: 22.12.2020. Rückmeldungen bitte bis zum 08.01.2021

1. Vorbemerkung

AbilityWatch e.V. versteht sich als Teil einer modernen Behindertenbewegung in Deutschland. Als Aktionsplattform wollen wir Politik kritisch begleiten, Fragen aufwerfen und das soziale Modell von Behinderung etablieren. AbilityWatch e.V. fordert die Vertretung von Menschen mit Behinderung durch Menschen mit Behinderung. Als DPO (Disabled People’s Organisation) betreiben wir Öffentlichkeitsarbeit und werden weiterhin mit Aktionen auf die fehlende Gleichberechtigung und mangelnde Einhaltung der UN-Behindertenrechtskonvention hinweisen.

Grundsätzlich begrüßen wir das Vorhaben der Bundesregierung, die Teilhabe von Menschen mit Behinderung stärken zu wollen. Dies ist im Sinne der UN-Behindertenrechtskonvention rechtlich geboten und dringend notwendig. Dabei gilt es auch, (bewusst oder unbewusst) durch das Bundesteilhabegesetz herbeigeführte Verschlechterungen der rechtlichen Lage für Menschen mit Behinderung zu korrigieren. Leider ist dies mit dem vorliegenden Gesetzentwurf nicht hinreichend passiert.

Die folgenden Punkte müssen deshalb dringend in das Teilhabestärkungsgesetz aufgenommen werden.

2. Abschaffung der Anrechnung von Einkommen und Vermögen

Forderung des UN-Fachausschusses für die Rechte von Menschen mit Behinderung

Die UN-BRK fordert die gleichberechtigte Partizipation von Menschen mit Behinderung. Dazu gehört auch, wie der UN-Fachausschuss für die Rechte von Menschen mit Behinderung (CRPD) 2015 in seinen Empfehlungen an Deutschland zur Umsetzung der UN-BRK festgestellt hat, Menschen mit Behinderung den gleichen Lebensstandard zu ermöglichen wie Menschen ohne Behinderung. Behinderungsbedingte Unterstützungsleistungen müssen entsprechend gestaltet sein. Damit verbietet sich auch jede Anrechnung von Einkommen und Vermögen, da diese unweigerlich zu einer Verringerung des Lebensstandards führt.

Verschlechterungen durch Bundesteilhabegesetz müssen korrigiert werden

Nun wurden mit dem Bundesteilhabegesetz einige Menschen mit Behinderung bei der Anrechnung von Einkommen und Vermögen entlastet. Für andere ist die neue Regelung nach §136 ff. SGB IX aber sogar von Nachteil: Die Personengruppe von Menschen mit Pflegegrad 4/5, hohem Assistenzbedarf und einem durchschnittlichen oder höheren Einkommen wird durch die Neuregelung schlechter gestellt. Dabei handelt es sich um Menschen, die – trotz der höheren zeitlichen und körperlichen Belastungen aufgrund ihrer Pflegebedürftigkeit – einen anspruchsvollen Berufsweg einschlagen.

Beispiel:

Eine Studentin der Betriebswirtschaftslehre mit Pflegegrad 4 und folglich hohem Assistenzbedarf, die in einigen Jahren ihr Studium abschließt, muss sich beispielsweise auf eine höheren Einkommensbeitrag einstellen als dies nach altem Recht der Fall war. Das alte Recht berücksichtigte besondere Belastungen schwerstpflegebedürftiger (Pflegegrade 4 und 5) und blinder Menschen in § 87 Abs. 1 SGB XII – das “neue” BTHG-Recht nicht. 

Die Übergangsregelung nach §150 SGB IX hilft lediglich Menschen, die schon vor dem 1.1.2020 Leistungen erhalten haben. Außerdem muss sich die Wirksamkeit dieser Übergangsregelung bei Veränderungen von Lebenssituation oder Einkommen erst noch beweisen.

Es ist nach wie vor nicht akzeptabel, dass Menschen aufgrund ihrer Behinderung und den nur daraus erwachsenen (lebens-)notwendigen Unterstützungsleistungen am Aufbau und Erhalt von Wohlstand gehindert werden. Ein gesellschaftlicher Verteilungsmechanismus bzw. eine Beteiligung an strukturell vorhandenen Sozialleistungen muss unabhängig von individuellen Merkmalen wie Geschlecht, Alter, Herkunft, sexueller Orientierung und eben auch Behinderung erfolgen. Gegen diesen gesellschaftlichen Konsens verstößt die aktuelle Rechtslage weiterhin.

Studie zeigt: Kaum Einnahmen und weiterhin hohe Verwaltungskosten trotz „vereinfachter“ Berechnungsmethodik

Abgesehen von dem Widerspruch zur UN-BRK und den Verschlechterungen durch das BTHG ist auch die finanzielle Sinnhaftigkeit der Anrechnung äußerst fraglich.

Die Verwaltungskosten zur Erhebung der Kostenbeiträge sind laut des zweiten Zwischenberichts der Kienbaum Consulting GmbH zur modellhaften Erprobung des BTHG unverändert hoch (vgl. Kapitel 5.1.3.2).

Die Einnahmen durch die Einkommensanrechnung sind gleichzeitig drastisch gesunken und auch die befürchtete Flut von Neuanträgen blieb aus (vgl. Kapitel 5.1.3.1). Insbesondere bei Menschen mit Pflegegrad 4/5 ist die Finanzierung der benötigten Assistenzleistungen ohnehin nicht aus einem eigenen Einkommen zu bewältigen, weshalb die Betroffenen hier unabhängig von besseren oder schlechteren Anrechnungsvorschriften schon immer den Antrag auf Unterstützung stellen mussten. Insofern ist auch hier kein Anstieg der Fälle zu befürchten.

Fazit: Abschaffung der Anrechnung von Einkommen und Vermögen folgerichtig und finanziell darstellbar

Mit dem Angehörigen-Entlastungsgesetz wurde bereits eine Entlastung von Angehörigen vorgenommen und es ist längst überfällig auch den Betroffenen selbst endlich die gleichberechtigte Partizipation im Sinne der UN-BRK zu ermöglichen.

Die Verschlechterungen durch das BTHG müssen korrigiert werden. Die Abschaffung der Anrechnung von Einkommen und Vermögen ist folgerichtig und auf Basis der Erkenntnisse aus Studien und Erhebungen ohne finanziellen Mehraufwand darstellbar.

3. Wiederherstellung der gleichberechtigten Partizipation im Ehrenamt

Der durch das BTHG eingeführte § 78 SGB IX Abs. 5 sieht vor, dass notwendige Unterstützung für die Ausübung eines Ehrenamtes „vorrangig im Rahmen familiärer, freundschaftlicher, nachbarschaftlicher oder ähnlich persönlicher Beziehungen erbracht werden“ soll.

Dies steht aus unserer Sicht in eklatantem Widerspruch zum Ziel gleichberechtigter Partizipation. Die Ausübung von Ehrenämtern wird durch die eingeführte Regelung unzulässig eingeschränkt. Betroffene werden so in soziale Abhängigkeit von familiären, freundschaftlichen oder ähnlichen Verhältnissen bei der Wahrnehmung ihrer gesellschaftlichen Teilhabe gebracht. Dies betrifft insbesondere auch die ehrenamtliche Betätigung im Bereich der Selbstvertretung sowie allgemein das ehrenamtliche Engagement im politischen Bereich. Dies ist mit der UN-BRK, insbesondere auch mit dem Recht auf gleichberechtigte politische Teilhabe, nicht vereinbar und muss korrigiert werden. Die Regelung des § 78 SGB IX Abs. 5 ist durch Streichung der Einschränkung „soweit die Unterstützung nicht zumutbar unentgeltlich erbracht werden kann“ zu modifizieren.

4. Herstellung des UN-BRK konformen Wunsch- und Wahlrechts

Mit dem BTHG wurden Leistungen der Assistenz für diejenigen, deren Kostenträger die Eingliederungshilfe ist, unter eine Prüfung der „Angemessenheit“ und damit unter Kostenvorbehalt, gestellt (§ 104 Abs. 2 SGB IX). Diese Abschwächung des allgemein geltenden Wunsch- und Wahlrechts (§ 8 SGB IX) muss beendet werden. Der Zugang zu erforderlichen Leistungen, unabhängig von Ort und Ausgestaltung der Leistungserbringung, muss garantiert werden.

Wie schon beim BTHG von den Interessensvertretungen behinderter Menschen befürchtet, häufen sich Ablehnungsbescheide aufgrund der nachvollziehbaren Weigerung Betroffener, Teilhabe- und Unterstützungsleistungen in untauglichen Formen oder Orten zu erhalten.

Die verunglückte Regelung des § 104 Abs. 3 SGB IX, welches eine Stärkung des Wunsch- und Wahlrechts hinsichtlich der Wohnform bewirken sollte, ist durch eine klare und deutliche Formulierung zu ersetzen. Infrage kommt hier, wie bereits 2016 vom Bundesrat empfohlen, die Übernahme des Wortlautes von Artikel 19 UN-BRK:

Dabei ist im Sinne einer inklusiven Leistungsgestaltung zu berücksichtigen, dass Menschen mit Behinderungen die Möglichkeit haben sollen, gleichberechtigt mit Anderen ihren Aufenthaltsort zu wählen und zu entscheiden, wo und mit wem sie leben wollen, und nicht verpflichtet sind, in besonderen Wohnformen zu leben.

Bundesrat

Stellungnahme des Bundesrates zum BTHG, Drucksache 428/16 - Seite 40

5. Verhindern von Zwangspooling

Mit dem BTHG wurde in § 116 Abs. 2 SGB IX die gemeinsame Leistungserbringung an mehrere Leistungsberechtigte in das Ermessen des Kostenträgers gestellt (Zumutbarkeitsprüfung).

Damit kann eine gemeinsame Leistungserbringung für mehrerer Betroffene gegen deren Willen erfolgen und so zu dem sog. Zwangspooling von Leistungen führen. Dies ist im Rahmen von persönlicher Assistenz unmöglich, ohne dabei die durch die UN-BRK garantierten, grundlegenden Entscheidungsfreiheiten hinsichtlich der eigenen, individuellen Lebensgestaltung einzuschränken. Die gemeinsame Leistungserbringung darf möglich und in Einzelfällen sogar gewollt sein, aber nur, sofern dies dem Wunsch der Betroffenen entspricht.  

Die gemeinsame Leistungserbringung (Pooling) muss daher – zumindest für den Bereich der Persönlichen Assistenz – unter dem Zustimmungsvorbehalt der Leistungsnehmer stehen.

Bezugnehmend auf (pdf): Teilhabestärkungsgesetz, Referentenentwurf des BMAS vom 22.12.2020

Die Stellungnahme als PDF zum Download.

Diese Stellungnahme ist in enger zusammenarbeit mit Netzwerk für Inklusion, Teilhabe,
Selbstbestimmung und Assistenz e.V. (NITSA) entstanden. Ähnlichkeiten sind nicht ausgeschlossen.