Nachdem der Bundestag in der letzten Woche das Intensivpflege– und Rehabilitationsstärkungsgesetz (IPReG) verabschiedet hat, sind viele Betroffene und Angehörige entsetzt. Der Grund hierfür liegt einerseits beim Gesetz selbst, andererseits aber insbesondere im Gesetzgebungsprozess und der (fehlenden) Beteiligung der  Betroffenen und ihrer Verbände. 

Ablauf und Hintergrund

Vor etwa einem Jahr sickerte der erste Entwurf aus dem von Jens Spahn (CDU) geführten Bundesministerium für Gesundheit (BMG) an die Öffentlichkeit. Nur Wenige trauten damals ihren Augen: Ausgerechnet jene Personen, die in stationären Einrichtungen dauerhaft die geringsten Überlebenschancen haben, sollten mit dem Gesetz zukünftig fast ausschließlich in Heimen und anderen Einrichtungen versorgt werden. Die bis dato vorbildliche 1-zu-1 Betreuung von Intensivpflegepatienten  sollten branchenüblichen Betreuungsformen (meist 1-zu-4 Betreuung) weichen. Insbesondere für Beatmungspatienten, bei denen ein ständiges und sofortiges Eingreifen notwendig sein kann, klang dies absurd und erschreckend.

Für Betroffene hätte dies das Ende der Selbstbestimmung über den Ort ihrer Versorgung und zugleich das Ende der damit verbundenen Teilhabe an der Gesellschaft sowie den Verlust ihres sozialen Umfeldes bedeutet. Zwar zeigte sich der Minister öffentlichkeitswirksam gesprächsbereit, doch schien er bei den erfolgten Diskussionen mit Selbstvertretungsorganisationen wie AbilityWatch nicht zugehört zu haben. Sichtbar wurde dies bei den immer wieder verschlimmbesserten Entwürfen. Am Ende waren es drei, zu denen auch wir regelmäßig Stellung nahmen.  

Von Entwurf zu Entwurf änderte der Gesundheitsminister zudem seine vorgebliche Begründung für die Initiative: Zunächst war es der Betrug im Rahmen der sogenannten Beatmungs-WGs sowie die bessere Nutzung des Weaningpotenziales. Später ging es um die Behebung von Fachkräftemangel. Dass hier Menschen mit Behinderung vom Bundesgesundheitsminister und seinem Ministeriums nicht mehr als Individuen mit einem Recht auf selbstbestimmtes Leben gesehen wurden, sondern als Objekte, die einer „Allokation“ unterworfen werden sollten, hat uns erschreckt und ist menschenverachtend. Gleichfalls unglaublich war, dass das Ministerium keinerlei Zahlenmaterial zu den verschiedenen Pflegesettings, insbesondere auch der Anzahl von Betrugsfällen, bereitstellen konnte. Eine Grundlage für den Gesetzentwurf war weit und breit nicht auszumachen.

Corona und Last-Minute-Angebote

Die Corona-Situation führte zudem mitten im Gesetzgebungsprozess vor Augen, welche Risiken mit der stationären Versorgung von Hoch-Risikopatienten (hier: maßgeblich Beatmungspatienten) verbunden sind. Die meisten Opfer gab es gerade in Heimen.  

In einer Zeit, in der die Betroffenen als Hoch-Risikopatienten kaum eine Möglichkeit hatten, öffentlichkeitswirksam zu demonstrieren, wurde das Gesetz mit Hochdruck vorangetrieben – einschließlich Anhörung im Gesundheitsausschuss, die corona-bedingt ohne Anwesenheit der Betroffenen und der Öffentlichkeit stattfanden.

Nach den Last-Minute-Änderungen der Regierungsfraktionen am Gesetzesentwurf stehen nun aber neue Fragen im Raum und der Unsicherheit der Betroffenen konnte – wie schon in den 50 Wochen zuvor – kaum begegnet werden. Auch, weil die Schuldzuweisungen und die Argumentation des Gesundheitsministers nicht gerade vertrauensbildend wirkten. 

Wir haben uns bemüht, zunächst eine kurze Zusammenfassung zu erstellen.

Im Detail

Folgende Bedenken der Betroffenen wurden aufgegriffen:

  • Die „dauerhafte“ und „tatsächliche“ Sicherstellung der Pflege zu Hause wird nicht mehr verlangt.
  • Als Grundsatz ist festgehalten, dass berechtigten Wünschen der Betroffenen zu entsprechen ist – Berechtigt ist jeder Wunsch, dem keine Rechtsnorm entgegensteht, im Gegensatz zu angemessenen Wünschen, die den Kostenaspekt berücksichtigen würden.
  • Das Arbeitgebermodell ist weiterhin möglich, auch mit jenen selbstbeschafften Pflegekräften, die keine Pflegefachkräfte sind.
  • Die Zuzahlung im ambulanten Bereich ist nicht höher als im stationären Bereich.

Zu den ersten Entwürfen bleiben indes folgende neue Regelungen bestehen, die für die Betroffenen eine Verschlechterung zum vorherigen Zustand bedeuten:

  • Ein bürokratisches Verfahren bzw.Rezepte nur von speziellen Ärzten und eine Überprüfung des Weaningpotenzials vor jeder Verordnung – auch bei degenerativen Erkrankungen.
  • Jährliche MDK Prüfungen.
  • Überzogene Eingriffe in die Unverletzlichkeit der Wohnung

Neue Verschlechterungen und  Fragen, die durch die letzten Änderungen geschaffen wurden:

  • Relativierung des Selbstbestimmungsrechts dadurch, dass Betroffene bei einseitig getroffener Feststellung des MDK zum Abschluss von Zielvereinbarungen und letztlich zum Zulassen von Verbesserungen gezwungen sind. Dies stellt mitunter eine Bevormundung dar und verletzt das Recht auf selbstbestimmte unzulängliche Versorgung (z.B. bauliche Veränderungen in der eigenen Häuslichkeit, die vom Betroffenen als unnötig betrachtet werden)
  • Unklarheit hinsichtlich der Rechtsfolgen, wenn die Einigung auf eine Zielvereinbarung nicht gelingt.
  • Neue Räume zum Verlagern in die Eingliederungshilfe / Hilfe zur Pflege über das Instrument der Zielvereinbarung.

Fazit

Das Schlimmste wurde verhindert, nämlich die großflächige Abschiebung der Betroffenen in Heime und andere stationäre Settings. Dennoch bedeuten die Regelungen für die Betroffenen eine Verschlechterung zum Status Quo. Das Selbstbestimmungsrecht wird eingeschränkt im Hinblick darauf, dass als vom Kostenträger bezeichnete „Verbesserungsmaßnahmen“ geduldet werden müssen. Dies, um nicht Gefahr zu laufen, am Ende doch das Recht auf Bestimmung des Aufenthaltsortes dadurch aberkannt zu bekommen, dass die Krankenkasse die Zahlung mangels Zustandekommen einer Zielvereinbarung einstellt. Die Bürokratie erhöht sich um ein Vielfaches. Hinzu kommt eine große Anzahl an  Unsicherheiten, die erst in langwierigen Gerichtsverfahren durch Auslegungsentscheidungen zu klären sein werden. Der große Angriff auf das autonome Leben behinderter Menschen konnte abgewehrt werden. Aber die erkämpften Modelle erodieren zunehmend. Statt Verbesserungen und Rechtsklarheit schafft der Gesetzgeber immer wieder neue fragwürdige Regelungen. Wir bleiben wachsam!