Teilerfolg, aber viele offene Baustellen

Das Bundesgesundheitsministerium hat das geplante Gesetz zur Stärkung der Intensivpflege (IPReG) nach massiven Protesten der Behindertenbewegung ein weiteres Mal substanziell verändert.

Nachdem zunächst im als RISG bekannt gewordenen Gesetzesentwurf alle Beatmungs- und sonstigen Intensivpflege-Patienten grundsätzlich ins Heim verbannt werden sollten, wurde im Zuge eines erneuten Anlaufs mit dem Titel IPReG als nächste Idee eine Einzelfallprüfung mit Mehrkostenvorbehalt vorgestellt. Dies hätte bedeutet, dass ein Leben in der eigenen Häuslichkeit nur dann möglich gewesen wäre, wenn es billiger ist als eine Unterbringung im Heim oder diese unzumutbar gewesen wäre.Faktisch hätte dies eine Abhängigkeit von Willkürentscheidungen analog zu den Problematiken des Bundesteilhabegesetzes bedeutet. 

Im nunmehr vorliegenden dritten Versuch hat das Bundesgesundheitsministerium den Mehrkostenvorbehalt gestrichen. Grundsätzlich ist danach weiterhin eine Versorgung in den eigenen vier Wänden auch bei Intensivpflege-Patienten möglich. Dies ist zunächst ein Erfolg, den wir alle gemeinsam erreicht haben! Massiver Protest auf der Straße, politische Gespräche im Hintergrund und kreative Kampagnen im Internet sei dank.

Trotzdem gibt es weiterhin Kritikpunkte und Gefahrenpotential

Das Verfahren zur Verordnung von Intensivpflege und damit auch die Versorgung in der eigenen Häuslichkeit wird komplizierter. Ein Verfahren, welches bei jeder erneuten Verordnung die Abklärung des Entwöhnungspotenzials voraussetzt, sollte für Patienten mit progressiven oder dauerhaften Erkrankungen obsolet sein. Sie verursachen einen enormen Aufwand – sowohl zeitlich auch als finanziell – und tragen zur Verunsicherung bei.

Vor allem aber ist neu, dass die Genehmigung von Intensivpflege in der eigenen Häuslichkeit von der Bewertung durch den medizinische Dienst (MD) abhängig ist. Dabei kann der Anspruch auf eine häusliche Intensivpflege schon von vornherein verwehrt werden, wenn eine Begutachtung durch den MD in der Wohnung durch den Betroffenen verweigert wird. Vor Ort soll geprüft werden, ob “die medizinische und pflegerische Versorgung an diesem Ort tatsächlich und dauerhaft sichergestellt werden kann” (§ 37c Abs. 2 Punkt 4 Satz 2). Für den Bereich der sogenannten Pflege-WGs ist dies sicher ein sinnvoller Schritt, um dem teilweise stattfindenden Missbrauch zu begegnen. Allerdings werden dadurch auch Personen, die in ihrer eigenen Häuslichkeit gepflegt werden, zukünftig gezwungen, ihre private Wohnung durch den medizinischen Dienst inspizieren zu lassen. Als Konsequenz einer Weigerung steht die Unterbringung in einem Heim oder anderweitigen speziellen Institution.

Was die Prüfung der Sicherstellung der medizinischen und pflegerischen Versorgung anbelangt, bleibt zu hoffen, dass nicht  durch die Hintertür versucht werden soll, Betroffene dennoch ins Heim zu zwingen. Diese Befürchtung drängt sich auf, wenn man in der Begründung liest:

„In Anbetracht des Fachkräftemangels im Pflegebereich bezweckt die Neuregelung auch eine sachgerechte Allokation vorhandener Ressourcen, um nicht zuletzt die besonders aufwändige Versorgung in der eigenen Häuslichkeit des Versicherten weiterhin ermöglichen zu können, ohne die Versorgung anderer Versicherter zu gefährden.“

Oder noch deutlicher:

„Die stationäre Versorgung, die grundsätzlich einen effizienten Einsatz des vorhandenen Pflegepersonals ermöglicht, soll daher gestärkt werden.“

Während das teilhabeorientierte SGB  IX vollständig in Kraft tritt, soll im SGB V die stationäre Versorgung gestärkt werden, was die Entwicklungen einer modernen, an Selbstbestimmung orientierten Sozial- und Behindertenpolitik konterkariert. Soziale Teilhabe und Selbstbestimmung scheinen für Menschen mit Behinderung, die in den Anwendungsbereich des Gesetzes fallen, nicht vorgesehen zu sein.

Dieser Eindruck wird dadurch bestärkt, dass der Personenkreis, welcher seine Versorgung durch selbst angestellte Assistenzkräfte im Rahmen des persönlichen Budgets sicherstellt, nicht berücksichtigt wurde. Hier ist dringend klarzustellen, dass auch diese Form der Versorgung möglich ist und die Entlohnung zu den im Verfahren nach § 132j SGB V vereinbarten Konditionen erfolgen kann. Hierzu liegt dem Ministerium mittlerweile sogar eine Ausarbeitung des Forums behinderter Jurstinnen und Juristen (FbJJ) vor.

Bei der Erarbeitung der gemeinsamen Rahmenempfehlungen fehlt die unbedingt erforderliche Beteiligung der maßgeblichen Selbsthilfegruppen sowie der Patientenvertretungen (vgl. PatBetVO). Vor Abschluss der Vereinbarung ist auch dem Dt. Behindertenrat Gelegenheit zur Stellungnahme zu geben.

Insgesamt ist der Entwurf in seiner jetzigen Form im Hinblick auf die Selbstbestimmung und Teilhabe behinderter Menschen weiterhin ein Rückschritt und muss nach wie vor dringend nachgebessert werden. 

Jens Spahn muss zudem erklären, wie er mit diesem Entwurf sein Versprechen vom letzten Sommer halten will, welches sowohl er selbst vor jeder greifbaren Kamera als auch das Bundesministerium in standardisierten Antwortschreiben an Betroffene gebetsmühlenartig wiederholten: Kein Mensch, der am sozialen Leben teil hat, würde mit diesem Gesetz ins Heim müssen. Mit dem vorliegenden Entwurf kann Spahn dieses Versprechen nicht halten.

AbilityWatch fordert zur kurzfristigen Behebung der größten Probleme im parlamentarischen Verfahren daher folgende Punkte zu modifizieren:

  • Die Unverletzlichkeit der Wohnung gilt auch für Menschen mit Behinderungen. Eine  Verweigerung des Eindringens in die Privatsphäre darf nicht mit einer Heimeinweisung sanktioniert werden.
  • Menschen mit Behinderungen, die ihr Leben durch Assistenz selbst organisieren, sind in der Lage eine eigene Einschätzung über die Sicherstellung ihrer Versorgung zu treffen. Die Beurteilung, ob eine Versorgung tatsächlich und dauerhaft sichergestellt ist, muss  dieser Personengruppe selbst überlassen bleiben 
  • Das vorgesehene, bürokratische Verfahren mit ständig wiederholter Überprüfung von Entwöhnungsmöglichkeiten ist für Patienten mit progressiven Erkrankungen zu vereinfachen.
  • Eine finanzielle Schlechterstellung der ambulanten Wohnform durch einen höheren Eigenanteil als im stationären Bereich darf nicht erfolgen.

Quelle: Entwurf eines Gesetzes zur Stärkung von intensivpflegerischer Versorgung und medizinischer Rehabilitation in der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV-IPREG) [Stand: 21.01.2020] – pdf
Bild: Anna Spindelndreier | Gesellschaftsbilder.de