Am gestrigen Montag, den 28.11.2016, präsentierte die Große Koalition wenige Tage vor der finalen Bundestagsdebatte ihre Änderungsanträge zum Bundesteilhabegesetz. Das Bundesteilhabegesetz hatte, wie es der Name vermuten lässt, ursprünglich die Absicht, die Teilhabe von Menschen mit Behinderungen in der Gesellschaft zu stärken, die Eingliederungshilfe aus dem Fürsorgesystem herauszuführen und mehr Selbstbestimmung zu ermöglichen.
Sowohl der Referentenentwurf aus dem Bundesministerium für Arbeit und Soziales, als auch der Kabinettsentwurf ließen aber zu befürchten, dass das Gegenteil der Fall sein würde.
Gestern zeigt sich nun die Reaktion der Politik auf die wochenlange Kritik von Betroffenen und Verbände. Dazu nimmt AbilityWatch wie folgt Stellung:

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Mit den nun vorgestellten Änderungen wurden einige wichtige Verbesserungen am Gesetzesentwurf vorgenommen. Diese Verbesserungen können aber nur als solche bezeichnet werden, weil die ursprünglich geplanten Regelungen einen massiven Rückschritt für Menschen mit Behinderungen in Deutschland bedeutet hätten. Verglichen mit den heute bestehenden Regelungen, wurde nur wenig, keinesfalls systematische Verbesserungen vorgenommen:

  • Zwar wurde die Heranziehung von Einkommen und Vermögen in der Eingliederungshilfe verbessert, Unterstützungsleistungen für behinderte Menschen sind aber weiterhin von der finanziellen Situation des Betroffenen abhängig. Im Gegensatz zu ursprünglichen Plänen gelten die Verbesserungen bei den Vermögensgrenzen jetzt auch für die Hilfe zur Pflege, sofern Eingliederungshilfe erstmals vor dem Eintritt ins Rentenalter geleistet wurde.
  • Eine unabhängige Beratung wird deutschlandweit eingeführt. Allerdings haben Betroffene keinen rechtlichen Anspruch auf diese.
  • Das Budget für Arbeit als Alternative zu einer Beschäftigung in Werkstätten für behinderte Menschen wird bundesweit eingeführt.
  • Genehmigungs- und Antragsprozesse werden teilweise vereinfacht.

Dem gegenüber steht ein Angriff auf die Grundpfeiler der Selbstbestimmung und Teilhabe. Die innersten Werte der bisherigen Behindertenpolitik stehen zur Debatte:

  • Die sogenannte 5-aus-9 Regelung, nach der behinderte Menschen auch dann keine Unterstützung erhalten, wenn sie eine Beeinträchtigung nur in wenigen „Lebensbereichen“ haben, wird nun zwar nicht direkt eingeführt, allerdings weiterhin bis 2023 evaluiert und ggfs. dann eingeführt. Damit könnten auch in Zukunft Betroffene ihren Anspruch auf Hilfen verlieren!
  • Das sogenannte Poolen ermöglicht das Erbringen von Unterstützungsleistungen für mehrere Personen gleichzeitig auch gegen den Willen der Betroffenen. Einzig für einen kleinen Teil der Assistenzleistungen im Wohnumfeld wurde dieser Zwang nun aufgehoben. In anderen Bereichen ist ein Poolen gegen den erklärten Willen der Betroffenen weiterhin möglich!
  • Assistenzleistungen für ehrenamtliche Tätigkeiten müssen vorrangig durch ehrenamtliche Assistenten abgedeckt werden.
  • Wird eine Unterbringung in einer speziellen Wohnform (z.B. Heimen) für den Betroffenen für zumutbar erachtet und ist diese gleichzeitig günstiger, so können auch in Zukunft Betroffene gegen ihren Willen in anderen Wohnformen untergebracht werden. Neu ist nur, dass die gewünschte Wohnform explizit als eines von mehrere Kriterien bei der Bewertung der Zumutbarkeit genannt wird.

Nur auf massiven Druck der Betroffenen konnten verheerende Regelungen sprichwörtlich im letzten Moment verhindert werden. So sollte das Wunsch- und Wahlrecht, zentraler Pfeiler der deutschen Interpretation der UN-Behindertenrechtskonvention, faktisch gestrichen werden. Eine Zwangseinweisung in Heimen, wie sie derzeit medial auch am Fall des Freiburger Dirk Bergen diskutiert wird, sollte ermöglicht werden. Diese Regelungen konnten nun zumindest abgeschwächt werden.

Am Ende bleibt festzuhalten, dass das Bundesteilhabegesetz nicht mehr als ein Reförmchen der bisherigen Gesetzgebung ist. Nur mit viel Kampf und Aufwand konnten massive Verschlechterungen für Betroffene abgewendet werden. Die angepriesenen Verbesserungen hingegen sind überfällig. Gleichzeitig wurden keine wesentlichen, systematischen Änderungen vorgenommen. Das große Versprechen, einen Paradigmenwechsel herbeizuführen und die UN-Behindertenrechtskonvention acht Jahre nach der Ratifizierung auch in Deutschland endlich gelebte Praxis werden zu lassen, wurde nicht eingehalten.